Seltene Exemplare: Deutschlands Mittelschicht: vom Aussterben bedroht
Nicht nur materiell, auch ideell ist der Mittelstand in Bedrängnis geraten. Denn klassische bürgerliche Lebensformen (Mutter, Vater, Kind, Haus mit Garten und Garage) werden seltener. Dabei ist die Mittelschicht der Garant für sozialen Frieden und ein Reservoir für Wissen und Bildung.
Im ersten Teil des Animationsfilms „Ice Age“ gibt es eine Szene, in der sich ein paar kleine Dinosaurier ohne erkennbaren Grund auf dem Boden wälzen und seltsame Laute von sich geben. Die Dino-Mutter, die das Spektakel beobachtet, fragt mit strenger Stimme, was dieses bizarre Verhalten zu bedeuten hätte. „Wir spielen Aussterben“, antwortet eines der Jungen.
„Aussterben“, das ist auch eines der Lieblingsspiele der Mittelschicht. In dieser Woche wurden zwei neue Studien diskutiert, die sich mit dem Wohl und Wehe der Mitte der Gesellschaft befassen. In beiden Studien lässt sich nachlesen, dass sich die Einkommenssituation in der Mitte der Gesellschaft verschlechtert. Die Bertelsmann-Stiftung kommt deshalb zu dem Schluss: Die Mittelschicht bröckelt. Ähnlich lässt sich auch der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung lesen. Die untere Mittelschicht ist von der Prekarisierung bedroht. Gleichzeitig akkumuliert eine dünne Schicht am oberen Rand der Gesellschaft immer mehr Vermögen. Jener Einkommenszustand auf dem schmalen Grat zwischen sorglos und doch nichts übrig wird hingegen seltener.
Der Abgesang auf die Mittelschicht ist alt. Schon Marx und Engels prognostizierten angesichts der Industrialisierung eine massive Verarmung der mittleren und unteren Gesellschaftsschichten. Die Prekarisierung der Marx'schen Ära wurde als „Verelendung“ bezeichnet, und die Verelendungstheorie war keineswegs unbegrenzt haltbar. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhren auch Teile der Arbeiterschaft eine ungeahnte Aufwertung ihrer Lebensverhältnisse, sie wurden Teil der Mittelschicht und die gedieh prächtig, sie wurde zum Wohlstandsbauch der Wohlstandsgesellschaft. Wie schwierig eine zuverlässige Prognose ist, zeigen die widersprüchlichen Schlüsse der verschiedenen Mittelschicht-Studien dieser Woche.
So oder so greift allerdings eine Debatte zu kurz, die sich auf das materielle Wohlergehen der Mittelschicht konzentriert. Wie groß die Mittelschicht ist, also die Gruppe vergleichsweise gutgestellter und vergleichsweise gleichgestellter Deutscher, wird vor allem als Index für das Maß der Gesundheit der Gesellschaft angesehen: Je größer der Bauch, desto intakter die Verteilungsgerechtigkeit. Doch die Mitglieder der Mittelschicht verbindet mehr als nur ähnliche Einkommen.
Mittelschicht sein - was bedeutet das?
Mittelschicht sein, das heißt „Tagesschau“ gucken und wählen gehen – und zwar nie rechts oder links von der Mitte. Das heißt, die Kinder auf die Realschule oder das Gymnasium zu schicken, ihnen die Facharbeiterausbildung oder das Germanistikstudium zu finanzieren. Mittelschicht-Menschen machen Karriere oder auch nicht, aber sie versuchen es in der Regel und haben das Potenzial dazu. Mittelschicht-Menschen engagieren sich in Parteien, kaufen Opernabonnements, helfen im Altenheim aus, spenden an Brot für die Welt, gehen in die Kirche, trennen ihren Müll und halten sich an die Verkehrsregeln. Und weil sie eigentlich alles haben, was sie brauchen, versteuern sie ihr Einkommen in Deutschland und würden ihrem Nachbarn niemals „Bonzen raus“ in den Lack seines Jaguar ritzen. Die Mittelschicht ist brav, bürgerlich und ein bisschen bieder. Anders gesagt: Sie ist der Garant für sozialen Frieden, ein Reservoir für Wissen und Bildung und das Immunsystem, das politische Extreme minimiert.
Gerade weil die Essenz der Mittelschicht mehr ist als eine Einkommensspanne zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Einkommens, ist die Sorge um ihr Verschwinden berechtigt. Denn nicht nur materiell, auch ideell ist sie bedroht. Klassische bürgerliche Lebensformen (Mutter, Vater, Kind, Haus mit Garten und Garage) werden seltener, was auch gesellschaftspsychologische Folgen hat. Das Schrumpfen der Mittelschicht bewirkt eben mehr als „nur“ ein Absinken des Grades der abstrakten Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland. Es wirkt destabilisierend und beraubt die Gesellschaft wichtiger Ressourcen.
Dass schon bei ersten, wenn auch nicht eindeutigen Anzeichen für ein Schrumpfen der Mittelschicht Alarm ausgelöst wird, ist daher richtig, zumal die Politik eine Fülle von Instrumenten zur Hand hat, um diese Gruppe zu stützen: zuerst eine sinnvolle Steuerpolitik (etwa die Verminderung der „kalten Progression“, die ausgerechnet die SPD gerade im Bundesrat verhindert hat), aber auch die Verbesserung der Chancengerechtigkeit, damit die Mittelschicht Zuwachs von unten bekommt.
Die politischen Dinosaurier sollten das Spiel mit dem Aussterben ernst nehmen. Sonst steht die Mittelschicht vielleicht tatsächlich eines Tages skelettiert im Museum des 21. Jahrhunderts.
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