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Die Flaggen der Europäischen Union und der Bundesrepublik Deutschland wehen vor dem Reichstag im Wind.
© picture alliance/dpa

EU-Ratspräsidentschaft: Deutschland muss auch an das Europa nach der Pandemie denken

Es sind noch 100 Tage bis zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Nicht nur das Verhältnis zu China muss neu verhandelt werden. Ein Gastbeitrag.

Ronja Scheler ist Programmleiterin des Paris Peace Forum und Elisabeth von Hammerstein Programmleiterin des Körber-Netzwerk Außenpolitik und der Munich Young Leaders bei der Körber-Stiftung.

In 100 Tagen beginnt die deutsche Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union. Es wird ein besonderer Vorsitz sein, nämlich der erste nach dem Ausbruch der weltweiten Corona-Pandemie. Grenzschließungen innerhalb und außerhalb der EU erschüttern dieser Tage die Grundfesten der Union bis ins Mark. Europäische Solidarität wird hart auf die Probe gestellt. Deutschland wird ab Juli im Rat als Krisenmanager agieren müssen.

Hauptaufgabe für die deutschen Verhandler ist es, die Mitgliedstaaten auf Einigkeit einzuschwören, zwischen unterschiedlichen Interessen zu vermitteln und einen kühlen Kopf zu bewahren – nicht nur bei Fragen rund um COVID-19.

Ein neuer Finanzrahmen und Verhandlungen mit Großbritannien

Denn neben der Herausforderung, die EU für die Zeit mit und nach Corona aufzustellen, werden deutsche Diplomaten mit anderen Themen konfrontiert sein, die durch COVID-19 nicht weniger drängend werden, allen voran die Verabschiedung des mehrjährigen Finanzrahmens, die Zukunft der Beziehungen zum Vereinigten Königreich und die Durchführung eines EU-China-Gipfels im September 2020. Hier kann Deutschland mit seinen traditionellen Stärken wie Pragmatismus und Verhandlungsgeschick punkten.

Bis zum Jahresende läuft die Übergangsfrist, in der sich das Vereinigte Königreich trotz seines EU-Austritts an die EU-Standards hält und Teil des Binnenmarkts und der Zollunion bleibt. Zwar kann theoretisch eine Übergangsfrist von bis zu zwei Jahren vereinbart werden. Davon will Boris Johnson aber bislang nichts wissen.

Noch deutet vieles darauf hin, dass der Premierminister sein politisches Versprechen trotz massiver Wirtschaftseinbrüche und großer Unsicherheit angesichts der Corona-Pandemie nicht brechen will und das zukünftige Verhältnis zwischen London und Brüssel in den sechs Monaten der deutschen Ratspräsidentschaft ausgehandelt werden muss. Eine Mammutaufgabe, zogen sich die Verhandlungen von EU-Freihandelsabkommen in der Vergangenheit doch teilweise über 43 (Vietnam) oder gar 63 Monate hin (Kanada).

Geschlossenheit und Pragmatismus

Für Deutschland wird die Herausforderung darin bestehen, die Mitgliedstaaten auf Geschlossenheit einzuschwören, auch wenn einzelne Länder je nach Struktur der Volkswirtschaft unterschiedliche Prioritäten haben dürften. Die deutschen Verhandler sollten hier ein pragmatisches Vorgehen an den Tag legen: Denn nicht alle Aspekte eines Abkommens müssen bis Ende 2020 verhandelt sein.

Je geringer der Verhandlungsumfang des Abkommens, desto einfacher der Ratifizierungsprozess seitens der EU. Denn solange die Kompetenzen der Mitgliedstaaten nicht betroffen sind, bedarf es nur der Zustimmung des Rats und des Europäischen Parlaments.

Eine zweite Pflichtaufgabe, die auch das Coronavirus nicht von der Agenda streichen wird, ist der Abschluss des siebenjährigen EU-Haushalts. Zwar zeigt die derzeitige Gesundheitskrise, wie schwer vorhersehbar und folgenreich politische Entwicklungen sein können – nicht umsonst gibt es kein demokratisches Land auf der Welt, welches Siebenjahrespläne verabschiedet.

Nicht den Anschluss verpassen!

Doch so ungewiss die Herausforderungen der nächsten Jahre heute scheinen: Klar ist, dass die EU den Anschluss bei Themen von Digitalisierung bis Klimaschutz nicht verpassen darf. Man kann nur hoffen, dass die derzeitige Krise ein Weckruf für all diejenigen ist, die bisher verhalten reagiert haben, wenn es darum ging, für Zukunftsthemen tiefer als gewohnt in die Tasche zu greifen.

Beim letzten Treffen der Staats- und Regierungschefs im Februar verliefen die Gräben zwischen den Verfechtern eines sparsamen Haushalts, den „Freunden der Kohäsion“ und denjenigen, die großzügige Agrarhilfen unterstützen. Steigender Druck gegen Ende der Laufzeit des aktuellen Budgets mag deren Kompromissbereitschaft zwar erhöhen.

Doch angesichts des enormen wirtschaftlichen Drucks in allen EU-Mitgliedsstaaten ist davon auszugehen, dass die Verhandlungen sich noch zäher und kleinteiliger gestalten werden als es vor der Corona-Krise abzusehen war.Deutschland sollte sein politisches Gewicht als größter Nettozahler nutzen, um den günstigsten Zeitpunkt für eine Einigung auszuloten und in diplomatischer Feinarbeit die Interessen zusammenzubringen. Eine Kernaufgabe wird dabei sein, Kleinkriege zwischen Nettozahlern und -empfängern dem größeren Ziel einer handlungsfähigen und flexiblen EU unterzuordnen.

China und das Europa, das mit einer Stimme spricht?

Neben diesen unumgänglichen Themen der Ratspräsidentschaft hat Deutschland sich selbst zum Ziel gesetzt, bei einer drängenden außenpolitischen Frage Akzente zu setzen: Für September 2020 hat die Bundesregierung einen EU-China-Gipfel in Leipzig anberaumt.

Staats- und Regierungschefs aller EU-Mitgliedstaaten werden hier mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping über die Zukunft der bilateralen Beziehungen beraten. Für den Erfolg des Gipfels wird entscheidend sein, dass „Europa mit einer Stimme spricht“ (Angela Merkel).

Nicht erst seit der Corona-Krise zeigt sich eine Spaltung zwischen denen, die Präsident Xis effektives Krisenmanagement loben, und denen, die seinen fragwürdigen Umgang mit Menschen- und Freiheitsrechten kritisieren. Im so genannten 17+1-Format tauscht sich China seit geraumer Zeit mit mittel- und osteuropäischen Staaten aus; viele von ihnen haben seither durch „chinafreundliches“ Abstimmungsverhalten im Rat von sich reden gemacht.

Wenn es Europa – insbesondere im Lichte eines schwelenden Großmachtkonfliktes zwischen den USA und China – nicht gelingt, China in Leipzig mit breiter europäischer Brust entgegenzutreten, könnte das deutsche Parade-Projekt zum Desaster werden. Es liegt an Deutschland, seiner Rolle als Brückenbauer zwischen West- und Osteuropa gerecht zu werden. Auch hier gilt: Vermitteln und verhandeln ist das Gebot der Stunde.

Neue Visionen wird es keine geben

Natürlich werden die Corona-Krise und der darauffolgende wirtschaftliche Wiederaufbau die deutsche EU-Ratspräsidentschaft überschatten. Angesichts solch enormer Herausforderungen ist aus Berlin keine neue europapolitische Vision zu erwarten.

Trotzdem kann sich Deutschland als europäische Führungskraft beweisen, wenn es gelingt, neben akutem Krisenmanagement die EU für die Zukunft handlungsfähig aufzustellen und im Kern zu stärken.

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