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Bilder der ermordeten mexikanischen Studenten bei einer Mahnwache in Mexiko-City.
© rtr

Drogenkartelle in Mexiko: Der Staat ist krank und trotzdem die Lösung

Die Ermordung von 43 Studenten hat Mexiko erschüttert. Doch der Kampf gegen korrupte Polizei und Drogenkriminalität verläuft bisher erfolglos. Wirklich etwas verändern können nur Schritte, die zunächst paradox erscheinen. Ein Gastkommentar

Mit der Verschleppung und mutmaßlichen Ermordung von 43 Lehramtsstudenten in der mexikanischen Gemeinde Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero ist die Aufmerksamkeit der mexikanischen Öffentlichkeit auf die Durchdringung staatlicher Strukturen mit kriminellen Interessen gelenkt worden. Damit gerät eine Grauzone in den Fokus, die in den bislang vorherrschenden Debatten über die geeignete Strategie zur Bekämpfung der Drogenökonomie wenig wahrgenommen wurde: Parteien, Amts- und Entscheidungsträger sind das bevorzugte Ziel der Drahtzieher des organisierten Verbrechens, die sich wirtschaftliche Vorteile verschaffen und gleichzeitig gegen Strafverfolgung absichern wollen.

Doch die jüngsten Ereignisse in Mexiko weisen noch darüber hinaus: Der Bürgermeister von Iguala hat nach dem heutigen Stand der Ermittlungen die von der kommunalen Polizei festgenommenen Studierenden der kriminellen Gruppe "Guerreros Unidos" "überlassen", um sich ihrer zu entledigen. Hier arbeiteten also gewählte Autoritäten, lokale Polizeikräfte und kriminelle Interessen Hand in Hand. Erneut manifestiert sich die Grundauffassung der Bevölkerung: Vom Staat und von den Parteien ist keine Hilfe zu erwarten, trotz öffentlicher Aufmärsche und Demonstrationen bleibt die Reaktion auf die Empörung beschränkt.

Wahlkämpfe werden aus undurchsichtigen Quellen finanziert

Auch wenn sich der konkrete Fall zunächst nur auf den lokalen Raum zu beschränken scheint, ist offensichtlich, dass auch die Ebene des Bundesstaats Guerrero und sogar die zentralstaatliche Ebene betroffen sind. Auch dort werden kriminelle Interessen materiell unterstützt, es werden Gefälligkeiten gewährt oder die Augen verschlossen angesichts des Drucks, den das organisierte Verbrechen ausübt. Es werden Wahlkämpfe aus undurchsichtigen Quellen finanziert, öffentliche Aufträge unter dubiosen Umständen vergeben sowie politischer Einfluss auch für die Durchsetzung krimineller Interessen genutzt.

Dabei geraten nicht nur Politiker ins Blickfeld des Verbrechens, auch Vertreter der Medien und gesellschaftlicher Gruppen geben den Angeboten und Drohungen Krimineller nach. Zunehmend ist in Mexiko deutlich geworden: Nicht nur der Staat und seine Organe, sondern auch die Gesellschaft ist von kriminellen Interessen durchzogen, der Drogenhandel ist eine einträgliche Einkommensquelle bis in das kleinste Dorf hinein, seinen Machtansprüchen – basierend auf Geld und Gewalt – geben notgedrungen weite Kreise der Gesellschaft nach; sie sind sich nicht sicher, ob sie Hilfe von staatlichen Akteuren erwarten können und dürfen.

Bislang konnte das "state capture", das heißt die Übernahme staatlicher Funktionen durch kriminelle Gruppen auf lokaler oder bundesstaatlicher Ebene, durch das Eingreifen des Zentralstaates bereinigt werden. Dabei mussten jeweils lokale Polizeistrukturen entwaffnet und durch die Bundespolizei ersetzt werden, um die geknüpften Bande zwischen lokalen Autoritäten und kriminellen Gruppen vor Ort zu durchbrechen. Es ist indes langwierig, neue Polizeikräfte aufzubauen und das Vertrauen der Bürger in die Ordnungshüter wiederzugewinnen.

Bürger vertrauen Ordnungshütern nicht

An diesem Beispiel zeigt sich, dass die föderale Struktur des Landes den kriminellen Interessen in die Hände spielt, und so werden immer wieder Forderungen laut, die Bundesebene und ihre Kompetenzen zu stärken, etwa in Gestalt einer einheitlichen Kommandostruktur angesichts von 2022 kommunalen und 31 einzelstaatlichen Polizeieinheiten mit autonomen Führungsstrukturen. Die Umsetzung einer umfassenden Polizeireform scheitert jedoch bisher an den Eigenlogiken und den Kontrollinteressen der jeweiligen staatlichen Ebene, so dass die erhofften Fortschritte weiter auf sich warten lassen. Auch aus der Gesellschaft heraus wird kein Druck erzeugt, eine tiefgehende Polizeireform durchzuführen.

Welche Handlungsoptionen bestehen, um dem Vordringen der kriminellen Geschäfte und Interessen Einhalt zu gebieten? Wie kann die Qualität des Staates in Mexiko verbessert werden, über die bisherigen Maßnahmen der Polizeireform, der Professionalisierung von Sicherheitskräften und der Transparenz öffentlichen Handelns hinaus? Zwar ist das Handlungsrepertoire hier bislang nicht ausgeschöpft, doch gelingt es angesichts etablierter Strukturen klientelistischer Politik und der verbreiteten Vorteilsnahme bei den Inhabern von Wahlämtern und Regierungsposten nicht, Reformen umzusetzen.

Ausweg liegt in einer größeren Autonomie des Staates

Die klientelistische Tradition der mexikanischen Politik öffnet auch den kriminellen Gruppen Tür und Tor. Eingeleitete Maßnahmen versanden oder werden blockiert. Verfassungsänderungen, neue Gesetze und Institutionen haben sich als wenig wirksam erwiesen, sie dienen eher der Legitimation nach außen. Der Versuch, staatliches Handeln einer größeren Kontrolle durch die Gesellschaft zu unterziehen, scheitert nicht zuletzt an der Gesellschaft selbst. Denn die meisten Bürger erhoffen auch für sich Vergünstigungen durch einen privilegierten Zugang zu staatlichen Leistungen. Versuche einer Immunisierung staatlichen Handelns kranken auch an dieser Staatszentrierung der Bevölkerung.

Auch wenn es paradox erscheinen mag gegenüber den Diskursen, die in der Zivilgesellschaft als "Hort des Guten" die Rettung sehen, liegt für Mexiko der Ausweg in einer größeren Autonomie des Staates gegenüber der Einflussnahme gesellschaftlicher Gruppen. Konkret bedürfte es eines neuen föderalen Paktes, dessen Ziel es sein sollte, den Staatsapparat neu aufzustellen, die Kompetenzen der Gebietskörperschaften neu zu ordnen, die Strukturen grundsätzlich zu professionalisieren und bestehende korrupte Netzwerke zu durchtrennen. Eine zentrale Rolle kommt dabei der internen Kontrolle und insbesondere dem Rechnungshof zu, der bislang keine Autonomie gegenüber Exekutive und Legislative besitzt.

Ein solcher föderaler Pakt könnte den Durchbruch bringen, wenn der Problemdruck in Politik und Gesellschaft hoch genug wäre. Bislang scheint dies nicht der Fall zu sein.

Prof. Dr. Günther Maihold ist stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sowie zurzeit Inhaber des Humboldt-Lehrstuhls in Mexiko City. Die Stiftung berät Bundestag und Bundesregierung in allen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Artikel erscheint auf der SWP-Homepage in der Rubrik "Kurz gesagt".

Günther Maihold

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