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Protest gegen Polizei und Drogenkartelle. Linksgerichtete Studenten demonstrieren nach dem Tod ihrer Kommilitonen gegen die Gewalt in Iguala.
© REUTERS

Mexiko: Nach dem Massaker an Studenten - wer gegen wen kämpft

Das Verschwinden von 43 Studenten in Mexiko empört das ganze Land und könnte zur Staatskrise werden. Regierung, Polizei, Drogenkartelle, Menschenrechtler und Studenten. Alle kämpfen gegen alle. Und doch gibt es einige klare Frontlinien.

Vielleicht ist es das eine Massaker zu viel, das die Menschen in Mexiko gerade zu Zehntausenden auf die Straße treibt und dessen politische Auswirkungen zurzeit noch gar nicht absehbar sind. Seit Jahren wird das Land von einem blutigen Drogenkrieg heimgesucht. Mehr als 70 000 Menschen hat der Kampf gegen die Drogen seit 2006 das Leben gekostet. Doch so aufgewühlt und emotional berührt wie in diesen Tagen präsentieren sich die von den täglichen Schreckensnachrichten abgestumpften Mexikaner schon lange nicht mehr.

Vordergründig geht es um das Schicksal von 43 verschwundenen Studenten, die mutmaßlich einer Gewalttat von Polizei und Sicherheitskräften zum Opfer fielen. Doch hinter den Kulissen hat sich die Wut und die Enttäuschung aufgestaut, dass sich der Kampf gegen die Drogen, für den die Mexikaner einen so hohen Blutzoll zahlen müssen, einfach nicht mehr rechtfertigen lässt.

Der Fall, der ganz Mexiko bewegt, liegt schon knapp zwei Wochen zurück. Damals waren nach Auseinandersetzungen zwischen Studenten und der örtlichen Polizei in der Kleinstadt Iguala im vom Drogenkrieg besonders betroffenen Bundesstaat Guerrero 43 junge Leute verschwunden. Es waren überwiegend Lehramts-Studenten, die gegen die schlechte Bezahlung von Lehrern demonstrierten. Lange blieb es ruhig, ehe die Sicherheitskräfte mit brutaler Gewalt gegen die Demonstranten vorgingen. Was danach geschah, ist bis heute ungeklärt. Offenbar kaperten die Studenten einige Busse, woraufhin die Polizei das Feuer eröffnete. Danach verliert sich die Spur der Studenten. In der Zwischenzeit häufen sich die Indizien, dass von den Studenten niemand mehr am Leben ist. Ermittler haben in der Zwischenzeit 28 zum Teil stark verbrannte Leichen gefunden. Obendrein räumten auch zwei Mitglieder der Verbrecherorganisation „Guerreros Unidos“ ein, an dem Mord an 17 Studenten beteiligt gewesen zu sein. Was die Geschichte noch brisanter macht: Auch Mitglieder der Polizei sollen bei der Ermordung beteiligt gewesen sein. Die Verbindung von Drogenkartellen und korrupten Polizeieinheiten ist nicht nur in Guerrero ein besonders schmutziges Kapitel des Drogenkrieges. Ohnmächtig und entsetzt verfolgen die Mexikaner die Nachrichten und hoffen vielleicht doch noch auf ein kleines Wunder.

Wie sind die Frontlinien?

Die Fronten sind kompliziert. Die Hauptfrontlinie in Mexiko verläuft zwischen den mächtigen Drogenkartellen und der Regierung. Beide Seiten verüben regelmäßig Massaker, bei denen viele Unschuldige sterben. Menschenrechtsorganisationen und linke Kräfte stellen sich deshalb sowohl gegen die Drogenkartelle als auch gegen die Regierung. Einem Bericht des Geheimdienstes Cisen zufolge planten die Studenten eine Demonstration auf einem Platz, wo die Frau des Bürgermeisters eine Rede halten wollte. Sie habe den Sicherheitschef der Stadt angewiesen, Proteste um jeden Preis zu verhindern. Ihrer Familie werden Verbindungen zum Drogenhandel nachgesagt. Die Drogenbande „Guerreros Unidos“ hat in Iguala offenbar Teile der Sicherheitsbehörden unterwandert. Insofern stehen lokale Polizeikräfte gemeinsam mit Drogenkartellen und wichtigen Familien gegen linke Kräfte und die Regierung. Diese lässt jetzt alle lokalen Polizisten verhören, um den Fall aufzuklären.

In Guerreros Provinzhauptstadt Chilpancingo wollen die Menschen die Gewalt nun nicht mehr klaglos hinnehmen. Mehr als 10 000 Menschen gingen auf die Straße, um eine umfassende Rettungsaktion und eine rückhaltlose Aufklärung der Ereignisse zu fordern. Obendrein fordern sie von der Regierung eine Polizeireform. Solange die Leichen nicht einwandfrei identifiziert sind und es noch Hoffnung gibt, einen Teil der verschwundenen Studenten wiederzufinden, wollen die Menschen von Guerrero keine Ruhe geben. „Lebend habt ihr sie genommen, lebend wollen wir sie zurück“, riefen sie in den Straßen von Chilpancingo. Auch die Guerillagruppe EZLN, eine historisch aus Indigenen bestehende linksgerichtete politische Gruppierung sprang auf den fahrenden Zug auf. In der Stadt San Cristóbal de las Casas mobilisierte die ELZN, selbst für Gewalttaten in der Vergangenheit verantwortlich, mehr als 20 000 Menschen für einen Schweigemarsch.

Auch die katholische Kirche meldete sich in der Zwischenzeit zu Wort. Der wegen seines Einsatzes für die Rechte von Einwanderern ohne gültige Papiere international bekannte mexikanische Pfarrer Alejandro Solalinde forderte politische Konsequenzen. „Ich fordere aus Gründen des Anstands den Rücktritt des Gouverneurs und die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen, die diese Regierung gemacht hat“, sagte der mit dem Nationalen Menschenrechtspreis ausgezeichnete Solalinde.

Verspielt die Regierung ihren Kredit?

Für Mexikos Präsidenten Enrique Peña Nieto sind die Vorfälle in Guerrero gleich aus verschiedenen Gründen brisant. Im Wahlkampf hatte der smarte Politiker noch eine andere Gangart der Polizei versprochen, die künftig weniger Blut vergießen solle. Obendrein gerät Peña Nieto mehr und mehr unter den Druck von sozialen Bewegungen und Menschenrechtsorganisationen. Human Rights Watch kritisierte den 48 Jahre alten Politiker, viel zu spät auf die Vorfälle in Guerrero reagiert zu haben. HWR-Amerika-Direktor José Miguel Vivanco, bekannt für seine schonungslose Kritik bei Menschenrechtsverletzungen in links wie rechts regierten Ländern Lateinamerikas, ging Peña Nieto direkt an: „Zu spät, Peña Nieto, zu spät“, sagte Vivanco. Diese Angelegenheit hätte gleich nach Bekanntwerden in die Verantwortung der Bundesregierung fallen müssen, jetzt sei es vielleicht schon zu spät, um die Vermissten zu retten.

Mittlerweile ist zwar eine Belohnung von einer Million Pesos – umgerechnet etwa 60 000 Euro – ausgesetzt worden, die für Hinweise auf den Aufenthaltsort gezahlt werden, doch der tatsächliche politische Preis dieses Falles, der sich zu einer veritablen Staatskrise zu entwickeln droht, ist noch gar nicht abzusehen. Für Peña Nieto, der zuletzt mit unblutigen Festnahmen einiger Drogenbosse für positive Schlagzeilen sorgte, ist es die erste harte Bewährungsprobe seiner noch jungen Amtsperiode. Sein Verhalten in den nächsten Tagen wird darüber entscheiden, wie viel Kredit er bei den Mexikanern tatsächlich verspielt hat.

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