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Tod im Mittelmeer: Ein Mann legt Blumen auf die Särge gestrandeter Migranten in Porto Empedocle in Italien.
© Marcello Paternostro/AFP

Tote Flüchtlinge im Mittelmeer vor Lampedusa: Der Preis der europäischen Grenzschutzpolitik

Wieder ertrinken Flüchtlinge vor den Küsten Europas. Vor der italienischen Insel Lampedusa ist der Tod von 300 Menschen zu befürchten. Sie sind das Opfer falscher Politik. Ein Kommentar.

Mit der europäischen Grenzschutzpolitik ist es ein wenig wie mit den Erwartungen einer Endzeitsekte: Wenn das Ziel zum vorausgesagten Zeitpunkt verfehlt wird – das Weltende oder die Ankunft des Messias –, kann es nur daran liegen, dass die Gläubigen nicht fest genug geglaubt oder nicht inbrünstig genug gebetet haben. Das Ziel wird nie infrage gestellt.

Mit gleicher Inbrunst glauben Europas Innen- und Sicherheitspolitiker an die Möglichkeit, die europäischen Außengrenzen gegen Flüchtlinge abzuschließen. Wenn dennoch Tausende kommen, zweifelt auch hier – jedenfalls öffentlich – keiner am Sinn des Unterfangens. Dann muss einfach noch mehr Geld an die europäische Grenzschutzagentur Frontex fließen, in Patrouillen, Überwachungstechnik und „smart borders“ gesteckt werden. Dass nicht die Raffinessen des EU-Grenzregimes die Zahl der Menschen festlegen, die es überwinden – oder die vor diesen Grenzen sterben –, sondern das Elend, die Zerstörung, die Kriege, vor denen sie fliehen, ist doch mehr als offensichtlich.

Verschweigen, das Leben kostet

Wo so viele Push-Faktoren wirken, braucht es keine Pull-Faktoren mehr: den Reichtum Europas, die Hoffnung auf Lücken in seinen Grenzen. Die Menschen kommen, weil sie müssen. Die so genannten Verantwortlichen schweigen dies wohl deshalb tot, weil sie sonst zugeben müssten, dass sie da etwas nicht im Griff haben.

Der Preis dieses Verschweigens und der falschen Politik, die ihr folgt, ist schrecklich: das Leben Tausender, die im Mittelmeer sterben. Dass sich jetzt selbst der künftige Chef von Frontex gegen „Push back“, das Zurückdrängen von Flüchtlingen aufs Meer oder hinter die Grenzzäune, ausspricht, klingt gut – und beim zweiten Hinhören dann doch ein wenig hohl. Man muss Menschen nicht aktiv abdrängen, man kann ihnen auch einfach beim Sterben ein Stück vor der eigenen Küste zusehen.

Abhilfe heißt auf europäisch Abschreckung

So kamen im Herbst 2013 fast 400 Afrikaner vor Lampedusa ums Leben. Jetzt ist der Tod von weiteren 300 zu befürchten, die sich am Sonntag, vermutlich gezwungenermaßen, von der libyschen Küste aus aufgemacht hatten. Die Katastrophe von 2013 brachte wenigstens auf ein Jahr „Mare Nostrum“ hervor, die Rettungsaktion, die Italien im Alleingang stemmte – gegen den Widerstand der EU-Partner – und schließlich einstellen musste. Das neue Massensterben, so viel lässt sich prophezeien, wird noch weniger bewirken. Die großen Zahlen stumpfen ab, und wenn die EU-Kommission jetzt das Ende solcher Katastrophen fordert, wissen Kenner, was das auf europäisch heißt: mehr Abschreckung der Flüchtlinge.

300 tote Afrikaner gegen mehr als 3000 Kosovaren

Dazu genügt es, den jüngsten Brief der Innenminister Frankreichs und Deutschlands an den Brüsseler Innenkommissar zu lesen, in dem er aufgefordert wird, den Schleusern das Handwerk zu legen. Zwischen Empörung über deren Zynismus und die tausende Euro, die sie pro Flüchtling kassieren, findet sich kein Wort über deren Geschäftsgrundlage, die Festung Europa. Und natürlich keines über Aktionen zur Rettung ihrer beklagenswerten Opfer – der Brief spricht ausdrücklich von syrischen Flüchtlingen. Sie müssten alle hier aufgenommen werden. Wenn sie es denn nach Europa schaffen.

Wie gut, dass die aktuellen Asylbewerberzahlen fast gleichzeitig mit der Katastrophe im Meer bekannt werden und moralische Entlastung schaffen: 3630 Kosovaren, die sehr lebendig nach Deutschland wollen, 73 Prozent mehr als vor einem Jahr. Alarm! Da sind 300 tote Afrikaner noch rascher vergessen. Die 400, die vor ihnen untergingen, sind es längst. Und die Hoffnung, dass irgendwann Vernunft in Europas Grenzpolitik einzieht, ist es sowieso.

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