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Jean-Claude Juncker ist der Spitzenkandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten und findet breite Unterstützung. Eigentlich.
© Reuters

Ringen um künftigen Kommissionspräsident: Der Machtkampf wird als Kuhhandel enden

Die Behauptung, die EU-Wahl entscheide über den Kommissionsvorsitz, war geschwindelt. Denn Europa ist kein Bundesstaat. Das Scheitern des Vertrags von Lissabon steht dafür, dass die Macht in der EU immer noch bei den Regierungschefs liegt.

Großes geschieht gerade in Europa. Verstehen die Menschen das? Sie erleben das Ringen um eine zentrale Zukunftsfrage als Gezerre um Posten. Dabei bündelt sich in der Entscheidung über den nächsten EU-Kommissionspräsidenten die weitreichende Frage, wer den Willen der Völker und der einzelnen Bürger in der EU am besten vertritt: ein direkt gewähltes Parlament oder der Rat der nationalen Regierungen? Der Wille der Völker und der einzelnen Bürger?

Ja, so kompliziert ist die real existierende EU. Wahl um Wahl, Umfrage um Umfrage bestätigt sich, dass viele Europäer das gemeinsame Europa schon wollen, für eine klare Mehrheit aber nach wie vor die eigene Nation der wichtigste Bezugspunkt der Loyalität und politischen Legitimation ist. Der Streit, ob die Europawahl 2014 automatisch den Kommissionspräsidenten mitbestimmt oder ob die 28 Regierungschef relativ frei entscheiden und dabei das Wahlergebnis lediglich „zu berücksichtigen“ haben, ist deshalb nicht nur eine Macht-, sondern auch eine Legitimationsfrage.

Der Vertrag von Lissabon wurde 2003 in einigen Staaten abgelehnt

Was soll EU-Europa am Ende sein: ein Bundesstaat oder ein Staatenbund? Darüber haben die Europäer vor anderthalb Jahrzehnten lange debattiert und schließlich einen Verfassungskonvent einberufen. Dessen Entwurf von 2003 haben die Völker in mehreren Staaten jedoch abgelehnt. Das war eine Niederlage der „Föderalisten“, der Anhänger einer Entwicklung zum Bundesstaat, und stärkte die „Intergouvermentalisten“: die Anhänger des Konzepts, dass die nationalen Regierungen in den Bereichen, die noch nicht in der EU „vergemeinschaftet“ wurden, das entscheidende Wort behalten. Im Vertrag von Lissabon retteten die Staaten die Absprachen zur Aufgabenteilungen aus der gescheiterten Verfassung, die für den Arbeitsalltag als unverzichtbar galten, und schlossen einige Kompromisse, darunter die Vorgabe, dass die Regierungschefs den Kommissionspräsidenten vorschlagen, unter Berücksichtigung des Wahlergebnisses.

Die EU ist heute ein Zwitter: mehr als ein Bund souveräner Staaten, die verstärkt zusammenarbeiten, aber weniger als ein Bundesstaat, wie zum Beispiel die USA. Es gibt zudem keinen Konsens, dass sie zu Vereinigten Staaten von Europa werden soll. Auch in den USA hatte sich einst der Streit um Staatenbund oder Bundesstaat elf lange Jahre hingezogen. 1787 fiel die Entscheidung für den Bundesstaat, weil die jungen USA die Unabhängigkeitserklärung 1776 und den Krieg gegen Großbritannien ohne gemeinsames Militär, gemeinsame Regierung und gemeinsame Besteuerung kaum überlebt hätten.

Auch diesmal wieder wird der Machtkampf wie ein Kuhhandel enden

Mit der erstmaligen Benennung von „Spitzenkandidaten“ haben die Föderalisten – zu denen selbstredend die erdrückende Mehrheit der politischen Klasse in Brüssel gehört – versucht, den Vertrag von Lissabon maximal zu nutzen. Die Behauptung, die Wahl entscheide über den Kommissionspräsidenten, war freilich geschwindelt. Es ist ein Glück, dass keine existenzielle Gefahr Europa zwingt, sich rasch zwischen Bundesstaat und Staatenbund zu entscheiden. Weder die Finanzkrise noch der Ukrainekrieg entfalten solchen Druck. Das Glück hat eine Kehrseite. Wie jeder Machtkampf in Europa wird auch dieser als Kuhhandel enden. Die EU als Basar, dessen Mechanismen die Bürger nicht verstehen: Das wird den Frust der Bürger nicht mindern. Dabei geht es doch um Großes: Teilhabe, Identität, Legitimation. Europa krankt daran, dass die Politik dies den Bürgern nicht zu erklären vermag.

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