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Gastkommentar zur Beschneidungsdebatte: Danke, Deutschland!

Die Beschneidungsdebatte vertreibt uns Juden nicht aus Deutschland, meint Michael Wolffsohn. Im Gegenteil: Eigentlich verdanken wir Juden der Debatte die Möglichkeit, über unsere Identität nachzudenken. Ein Gastkommentar.

Auch während der „Beschneidungsdebatte“ und nach dem verbrecherischen Überfall auf Rabbiner Alter und die jüdischen Schulmädchen in Berlin sagt (m)eine jüdische Stimme: Danke, Deutschland!

Die Mehrheit in- und ausländisch jüdischer Repräsentanten verkündet, dass jüdisches Leben in Deutschland „offensichtlich wieder unerwünscht“ sei. Manche schlagen den Bogen vom Kölner Urteil zu Auschwitz, andere drohen mit Auswanderung, an die zu Recht niemand ernsthaft denkt, denn Bundes-Deutschland meint es gut mit uns Juden.

Mit Kofferpacken und Auswanderung drohen manche „meiner“ jüdischen Vertreter seit Jahrzehnten. Fakt ist, dass in der Alt-BRD 30 000 Juden lebten, heute etwa 250 000. Darüber hinaus wird die Zahl der allein in Berlin lebenden Israelis auf rund 50 000 geschätzt, Tendenz steigend. Juden kommen nach Deutschland, sie wandern nicht ab oder aus. Die jüdische Basis hat mit den Füßen zugunsten Deutschlands abstimmend, die wortreichen, zeitweise zurückgenommenen, dann doch wiederholten Drohungen ihrer Führung widerlegt.

Video: "Beschneidung ist Teil der muslimischen Identität"

Die Vermengung der Beschneidungsdebatte mit dem Überfall auf Mädchen und Rabbiner ist irreführend und sachfremd. Der Rabbi und die Mädchen wurden Opfer, weil Deutschland und Europa längst Nebenschauplatz des arabisch-muslimisch-israelischen Dauerkrieges sind. Die Beschneidungsdebatte (be)trifft Juden und Muslime gleichermaßen, wobei kaum jemand mehr vom Ausgangspunkt der Debatte, den Muslimen, und jeder über „die“ Juden spricht. Auf beide Überfälle reagierte die deutsche Öffentlichkeit und Politik einhellig mit schärfster Ablehnung. Danke, Deutschland.

Bildergalerie: Die Debatte um das Beschneidungsurteil in Bildern

Von den in Deutschland lebenden Juden sind weniger als die Hälfte Mitglieder der 108 jüdischen Gemeinden, deren Dachverband der Zentralrat ist. Stetig sinkt seit Jahren die Zahl der Gemeindemitglieder. Die mangelnde Attraktivität der jüdischen Gemeinden hat viele Gründe: Man denke an innergemeindliche Dauerfehden, die besonders Berliner bestens kennen. Jenseits der oberflächlichen, eher läppischen Gründe gibt es eine tiefe Ursache für die mangelnde Attraktivität jüdischer Gemeinden: Die allgemeine Verweltlichung und der „Gott ist tot“-Glaube haben zu einem Desinteresse an Religion und jeglicher Institution der Religion geführt. Diese fast totale Verweltlichung trifft jüdische wie christliche Gemeinden gleichermaßen.

Politik und Religion sind voneinander zu trennen.

Hinzu kommt: Jüdische und christliche Repräsentanten sind oft politisch geerdet. Zum Himmel schauen sie eher selten, und die manchmal höllisch schwierige Politik beherrschen Politiker besser als religiöse Repräsentanten, geistliche oder Laien, christliche oder jüdische. Für Politik geht man weder in Synagogen noch Kirchen.

Bildergalerie: Demo für das Recht auf Beschneidung

In der Beschneidungsdebatte erweckten viele jüdische Wortführer den Eindruck, (männlich) jüdische Identität hinge von der Beschneidung ab. Darauf reduziert, wäre jüdische Identität armselig. Wir sind das „Volk des Buches“.

„Landesrecht gilt“, verkündeten schon die talmudischen Weisen. Dennoch mischten sich Israels Oberrabbiner Metzger und der orthodoxe Innenminister Ishai direkt in die deutsche Debatte ein. Das dokumentiert einmal mehr die Politisierung (auch) der jüdischen Religion. Die Intervention war zudem unnötig, denn parteiübergreifend wird ein deutsches Gesetz vorbereitet, das die verschiedensten Interessen und Sorgen berücksichtigt. Danke, Deutschland.

Eigentlich verdanken wir Juden der vermeintlich deutschen Debatte die Möglichkeit, über unsere Identität nachzudenken. Noch haben wir diese Möglichkeit nicht genutzt. Was nicht ist, kann noch werden. Wir hätten es „den“ Deutschen zu verdanken.

Der Autor war von 1981 bis 2012 Professor an der Bundeswehruniversität München.

Michael Wolffsohn

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