Fotografin Claudia Andujar im Porträt: Zwischen den Welten
Claudia Andujar überlebte den Holocaust und wurde Fotografin in Brasilien. Ihre Mission: die Rettung des Yanomami-Volks, das im Amazonasdschungel lebt. Nun wird sie in Weimar mit der Goethe-Medaille geehrt. Ein Treffen in São Paulo.
„Sie wussten nicht, was das ist, ein Foto.“ Claudia Andujar erinnert sich gut daran, wie sie den Yanomami tief im brasilianischen Dschungel zum ersten Mal Abzüge ihrer Aufnahmen zeigte. Darauf waren die Indigenen selbst zu sehen. „Aber sie erkannten sich nicht“, sagt sie. „Sie drehten die Fotos um, weil sie die Person dahinter finden wollten.“
Es war das Jahr 1971, und im nördlichen Amazonasbecken trafen zwei Zeitalter aufeinander. Das eine kam mit Flugzeugen, Bibeln, Kettensägen und Grippe. Das andere war immer schon da, es kannte keine Uhr und keine Motoren, es folgte dem Lauf der mächtigen Flüsse, den Pfaden der Tiere und den Geistern des Waldes. Und dazwischen, fasziniert und verwirrt zugleich, stand Claudia Andujar, Fotografin und Holocaustüberlebende, mit ihrer Nikon. Sie hatte den Auftrag, für eine brasilianische Zeitschrift eine Reportage über das Leben der Yanomami zu erstellen.
Zum ersten Mal besucht sie das isolierte Volk 1971
An einem Nachmittag im August blickt Andujar über eine ganz andere Wildnis. Es ist der Häuserdschungel São Paulos. Ihre Wohnung befindet sich im 20. Stock eines Apartmentriegels im Zentrum der brasilianischen Megastadt, die sich zu ihren Füßen ausbreitet. An den Wänden ihrer Wohnung hängen großformatige Fotos von Indios, in den Regalen stehen indigene Töpferarbeiten, in einer Vitrine schillert Schmuck aus bunten Vogelfedern. „Ich habe Sehnsucht nach den Yanomami“, sagt die 87-Jährige auf Portugiesisch, „ich vermisse sie.“ Manchmal merkt man Andujar, die in der Schweiz zur Welt kam, das Alter an, wenn sie in ihren Erinnerungen versinkt und die Worte nur langsam zu ihr kommen. Aber wenn sie von den Yanomami spricht, dann ist sie konzentriert, will sich genau erinnern, berichten.
In Claudia Andujars Leben schloss sich damals ein Kreis. Was sie nicht ahnen konnte, als sie 1971 zum ersten Mal zu dem isolierten Volk im Grenzgebiet zu Venezuela reiste. Bis dahin hatte sie als Fotoreporterin gearbeitet, die für ihre künstlerische Herangehensweise international bekannt und gefragt war. Sie fotografierte für das „Life“-Magazin und die „New York Times“; das MoMA in New York, wo sie nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst lebte, nahm einige Bilder in seinen Bestand auf. 1955 zog Andujar nach São Paulo, weil ihre Mutter dort lebte. Fortan widmete sie ihre Arbeit dem Alltag Brasiliens, das politisch zerrissen war und einige Jahre später einen Militärputsch erlebte.
Goldsucher, Holzfäller und die Militärregierung bedrohen die Yanomami
Für Claudia Andujar war das schrecklich, denn sie hatte in Europa erlebt, was Diktaturen anrichten können. Bei den Yanomami fand sie nun etwa ganz anderes, „große Freundlichkeit“. Die Ureinwohner, die mit 35 000 Menschen das größte indigene Volk der Amazonasregion sind, lebten Anfang der siebziger Jahre noch ein ursprüngliches Leben und hatten kaum Kontakt zur Außenwelt. Aber die Bedrohungen zeichneten sich bereits ab: Goldsucher, Holzfäller und die brasilianische Militärregierung, die eine Überlandstraße durch ihren Wald schlagen wollte.
Als Andujar eintraf, kam sie zunächst in einer kleinen Missionarsstation unter. Sie wartete lange, bis sie mit dem Fotografieren begann. Denn die Yanomami wussten nicht, was die weiße Frau mit diesem rechteckigen schwarzen Apparat vorhatte, den sie auf sie richtete. „Ich blieb zwei Monate“, sagt Andujar. „Wir verständigten uns, indem wir lächelten. Die Indios fassten mich an. Ich war sehr neugierig, aber sie waren es auch. Sie wussten am Anfang nicht recht, ob ich ein Mann oder eine Frau war.“
Die Erfahrung beeindruckte Claudia Andujar so stark, dass sie beschloss, fortan jedes Jahr mehrere Monate mit den Yanomami zu verbringen. Begünstigt wurde ihr Vorhaben durch ein Arbeitsstipendium der Guggenheim Stiftung. Es ist der Beginn eines Lebens zwischen zwei Welten, in dessen Verlauf Andujar etwas Einzigartiges schuf: ein Fotoarchiv der Yanomami mit rund 60 000 Aufnahmen. Zudem half sie mit dringend benötigten Gesundheitskampagnen.
Beeinflusst von der Kosmologie der Indigenen wurde ein Teil ihrer Arbeit in diesen Dschungel-Jahren künstlerischer, mystischer. So überblendete sie Fotos von Yanomami einer Serie mit Aufnahmen der überwältigenden Natur des Amazonas. Das fantastische Ergebnis nennt sie „Träume der Yanomami“. Doch Andujars Präsenz bei den Ureinwohnern stört die Militärs in Brasília, die das Land wirtschaftlich ausbeuten wollen. Straßen werden gebaut, Goldsucher dringen vor, sie schleppen Krankheiten ein. Es kommt zu Gewalt, viele indigene Dorfgemeinschaften werden stark dezimiert. Auch Andujar wird bedroht – bis die Militärs sie 1978 zwingen, die Region zu verlassen. Die Künstlerin reagiert, indem sie die „Kommission Pro Yanomami“ gründet, der sich ein Missionar und ein Anthropologe anschließen. Sie fordern, dass das Land der Yanomami zu einer Terra Indígena erklärt wird.
Als Terra Indígena bezeichnet man in Brasilien die Indio-Reservate, in denen jede wirtschaftliche Aktivität untersagt ist. Sie sind praktisch die einzige Möglichkeit, um den Ureinwohnern das kulturelle Überleben zu sichern.
Das Gebiet der Yanomami wird 1992 zum Reservat erklärt
In den achtziger Jahren verschreibt Andujar sich ganz diesem Kampf. Zu ihrer wichtigsten Waffe werden ihre stillen, intimen Schwarz-Weiß-Fotografien der Indigenen. Sie erfahren große internationale Beachtung, werden in Museen gezeigt, in Zeitschriften gedruckt und tragen dazu bei, dass die Yanomami in der westlichen Vorstellung zum archetypischen Amazonasvolk werden.
„1992 geschah es dann“, sagt Claudia Andujar, während sich die Dämmerung über das Häusermeer von São Paulo legt. Sieben Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur wird die Terra Indígena Yanomami ausgerufen, eines der größten Indio-Reservate Brasiliens. Seine Ausmaße entsprechen denen Baden-Württembergs.
„Ich glaube ja nicht, dass mein Einsatz für die bedrohten Indios etwas mit meiner Holocaust-Erfahrung zu tun hat.“ Man kann diesen markanten Satz, den Andujar in einen Moment der Stille hineinsagt, nur verstehen, wenn man auf den Anfang ihres Leben zurückblickt. Zwei Kulturen, damit kam sie schon zur Welt, 1931 in Neuchâtel als Claudine Haas: Ihre Mutter war Schweizerin, ihr Vater ungarischer Jude.
Ihr jüdischer Vater wurde deportiert und ermordet
Die Kindheit verbrachte Andujar dann in der rumänischen Grenzstadt Oradea, die mehrheitlich von Ungarn bewohnt wurde. Dort erlebte sie in den vierziger Jahren, wie Einsatzkommandos der Nationalsozialisten ihren Vater und dessen gesamte Familie deportieren und schließlich ermorden. Sie entgeht der Deportation, weil sie dank der Hilfe eines ungarischen Soldaten in einem Kloster unterkommt und mit ihrer Mutter, die vom Vater geschieden ist, in die Schweiz flieht. Von dort geht sie 1945 nach New York und heiratet, kaum 18 Jahre alt, den spanischen Flüchtling Julio Andujar. Aber sie trennen sich kurz darauf, weil er zum Koreakrieg eingezogen wird. Geblieben ist ihr der Name.
Am Dienstag wird Claudia Andujar in Weimar mit der Goethe-Medaille geehrt. Die Auszeichnung des Goethe-Instituts gilt der Fotografin, Künstlerin und Menschenrechtlerin. Weitere Preisträger sind der ungarische Komponist Péter Eötvös und das Theaterkollektiv Mapa Teatro aus Bogotá.
Für Claudia Andujar wird es das erste Mal sein, dass sie deutschen Boden betritt. Sie sagt, sie hat ein bisschen Angst, weil sie nicht weiß, wie das Land der Mörder ihrer Familie heute ist. „Ich möchte gerne offen äußern, was ich fühle“, meint sie. In Weimar wird sich für Claudia Andujar ein weiterer Kreis zwischen ihren Lebenswelten schließen.