Olivier Schrauwens „Arsène Schrauwen“: Zwei Farben sehen mehr als drei
Eine vordergründig absurd komische Liebesaffäre mit beißender Kritik an patriarchalischen Strukturen und dem Kolonialismus - trauriger kann man sich nicht totlachen.
Es gibt zwei Panels in Olivier Schrauwens mit familiengeschichtlichem Kolorit versehenen Kolonialdrama „Arsène Schrauwen“, die demonstrieren, wie man durch das Hinzufügen kleiner Details seine künstlerische Intention etikettiert und die Mittel des Mediums außerhalb üblicher Konventionen zu neuen Bedeutungsebenen führt.
Besagte Panels finden sich auf der einundzwanzigsten Seite des Comics. Sie zeigen durch das Hinzufügen weißer Schlieren auf blauem Grund die aufkeimenden Gefühle der titelgebenden Figur Arsène, ohne diese zu verbalisieren. Die romantischen Anwandlungen gelten Marieke, der Ehefrau seines Vetters Roger, eines ambitionierten Architekten mit Hang zum Größenwahn. Diese bildgestalterische Abstraktion bedeutet den Bruch mit der von Olivier Schrauwen bis dahin weitestgehend in seiner Geschichte etablierten Erzählform des scheinbar reinen Abbildens von bereits durch den Bildtext bekannten Sachverhalten; ein Verfahren, welches unter Comicfreunden und -künstlern eigentlich als unschicklich angesehen wird. Darum, wie auch um andere Regeln, schert sich Herr Schrauwen, also der Enkel von Arsène und Autor des Comics, jedoch einen Dreck.
Lachen mit Arsène und Ollie
Eine stark fiktionalisierte und sexualsymbolisch aufgeladene Familiengeschichte ist es also, die uns hier dargeboten wird, und nach dem sich ebenfalls mit paternalistischen Strukturen befassenden „Mein Junge“ sowie dem eine Episode aus der kolonialen Vergangenheit Belgiens beinhaltenden „Der Mann, der seinen Bart wachsen ließ“, ist dies bereits die dritte deutsche Buchveröffentlichung des Wahlberliners belgischer Herkunft.
Jeder dieser drei Comics, der erste im klassischen frankobelgischen Album-Format angelegt, der zweite eine Sammlung von kürzeren Geschichten und der dritte von Schrauwen selbst im ersten Panel als Graphic Novel deklamiert, beziehungsweise führt dieser sich selbst dort als Autor von Graphic Novels ein, dreht die Realität auf links und gibt neue Sichtweisen auf Themen wie geschlechtliche Identitäten, Politik und Kunst frei. Das ist der Modus Operandi von Schrauwen: Eine konstant verzerrende Darstellung von Dingen, die von einer Mehrheit übereinstimmend als Realität definiert und akzeptiert wird. Dumm allerdings, wenn man nicht zu dieser vorwiegend männlichen Mehrheit mit weißer Hautfarbe gehört.
Diese seit Jahrhunderten gefestigte Sichtweise war Ursache und zugleich Rechtfertigung einer grausamen Kolonialpolitik Belgiens und anderer europäischer Staaten gegenüber dem afrikanischen Kontinent und dessen Ausbeutung zum eigenen Wohl. Eine nachhaltige Aufarbeitung dieser Ereignisse fand und findet so gut wie nicht statt.
Nachdem Schrauwen also in „Mein Junge“ mit exzentrischem Humor, wie er Belgiern wie beispielsweise Kamagurka oder Jerry Frissen oft zu Eigen ist, den Männlichkeitswahn und den Hang seiner Geschlechtsgenossen zur Unterwerfung Dritter und zum Sammeln von Trophäen seziert hatte - man denke nur an die im Zoo gehaltenen Pygmäen und die Degradierung der bereits toten Mutter zur Gebärmaschine - warf er in „Der Mann, der seinen Bart wachsen ließ“ einen Blick auf die Mechanismen der Kunst, aber eben auch wieder auf den Kolonialismus. Dabei wurden die Methoden seiner Darstellung immer abstrakter. War „Mein Junge“ noch recht zugänglich, so verloren sich einige der Kurzgeschichten Schrauwens mitunter im experimentellen Delirium. „Mowgli’s Mirror“, welches nicht in deutscher Sprache vorliegt, bezieht sich zumindest über den Titel auf eine der bekanntesten Figuren des britischen „Dschungelbuch“-Autors Rudyard Kipling, dessen Gedicht „Die Bürde des weißen Mannes“ der Verherrlichung kolonialer Politik nicht gänzlich unverdächtig ist.
Im Gegensatz zu den durchgängig mehrfarbig kolorierten Vorgängern ist die sich auf zwei Farben beschränkende Gestaltung von „Mowgli’s Mirror“ eine farbliche Reflektion des ebenfalls in Blau und Orange angelegten „Arsène Schrauwen“, mit Ausnahme von zwei Doppelseiten im Letzteren. Hier allerdings sind die dem Kalt-Warm-Kontrast förderlichen Farben fast gänzlich voneinander separiert, selbst wenn beide Farben einmal innerhalb eines einzelnen Panels aufeinander treffen; die koloniale Tradition der Segregation wird hier zum Stilmittel.
Dieses Verfahren folgt nicht etwa nur einer rein ästhetischen Entscheidung, es sind ebenso technische Zwänge, die Schrauwen bewogen, die Kolorierung dergestalt auszuführen, wie er in einem Interview einräumte. Er setzt diese Art der farblichen Gestaltung punktuell ein, zum Beispiel zur Markierung und Gewichtung einzelner Panels innerhalb des Seitenarrangements. Aber natürlich steht die Farbgebung symbolisch für die zwei Lebenswelten, die im Kongo aufeinander treffen: nämlich die bürgerliche Lebenswelt von Schrauwens Großvater und die als bedrohlich und fremd empfundene Umwelt der Kongolesen.
Pesthauch des Dschungels
Das Abgrenzen von dieser, befeuert durch Gerüchte anderer Belgier, die Arsène Schrauwen im Laufe seines Aufenthaltes trifft, treibt ihn zu skurrilen Unternehmungen. So führt die Warnung vor dem sich im menschlichen Körper einnistenden Elefantenwurm zur Abdichtung der eigenen Kleidung mittels Klebeband sowie dem fast völligen Verzicht auf Körperhygiene. Und um jeglichen Kontakt mit kongolesischem Wasser zu vermeiden, welches dem Parasit als Heimat dienen soll, zwingt ihn seine Furcht zur Erhöhung des Bierkonsums.
Interessanterweise tauchen die als zur Disziplin gebracht werden müssenden diffamierten Kongolesen gar nicht wirklich als farblich ausdefinierte Protagonisten auf. Erst im mehr- beziehungsweise dreifarbig kolorierten Schlussteil wird man ihrer ansichtig. Unwillkürlich muss man an die kolonialismuskritische Geschichte aus „Der Mann, der seinen Bart wachsen ließ“ mit dem Titel „Congo Chromo“ denken, der im Titel auf das völlige Fehlen dieser im Wahrnehmungskanon belgischer Kolonialisten anspielt.
Dafür findet sich der Topos des sexuell aggressiven Leopardenmenschen, der eine lange und traurige Tradition im westlichen Comic hat. Fündig wird man da beispielsweise beim ebenfalls aus Belgien stammenden „Tim im Kongo“. Das Figurenpersonal von „Tim und Struppi“ indes wird überdies durch Anflüge von Professor Bienleins Physiognomie bei einem der den inzwischen wahnsinnig gewordenen Vetter von Arsène Schrauwen behandelnden Ärzte in Erinnerung gerufen. Auch die riesigen Köpfe, die am Esstisch mit Marieke und Arsène sitzen, können als subtile Anspielung auf die Ononos aus Burne Hogarths „Tarzan and the Ononoes“ gelesen werden. Die Ononos, wie sie in den deutschen und französischen Übersetzungen tituliert wurden, weisen gerade in der französischen Version einige gestalterische Eingriffe seitens der Zensur auf, die im Kontext mit der Darstellung des Kolonialismus in Schrauwens Comic von besonderem Interesse sein dürften.
Wie überhaupt der ganze Comic eine Metatextur besitzt; so wird auf der hunderteinundsechzigsten Seite der Blick der Hauptfigur zur Veranschaulichung comictheoretischer Überlegungen zum induktiven Charakter der Kunstform genutzt. Zugleich zeigt sich die Unfähigkeit zu deren Vollzug am Beispiel der Hauptfigur, was als Metapher auf den gemeinen frankobelgischen Comic-Rezipienten im Sinne der Blickverstellung auf die rassistischen Inhalte seiner Lektüre interpretiert werden kann.
Die darin mitschwingende Darstellung der Impotenz zur Aufnahme irgendwelcher Beziehungen des Arsène Schrauwen mag manchen spätestens auf der hundertvierunddreißigsten Seite an den goldenen Esel aus Apuleius’ „Metamorphosen“ denken lassen beziehungsweise an die Interpretation von Milo Manara, beide Werke sind ebenfalls sexuell konnotiert.
Der Vetter schenkt dem Kongo eine Stadt
Eine weitere Metaebene ist die Architektur. Comics und Architektur haben eine enge Beziehung zueinander, so sind viele Comickünstler damit befasst gewesen; als prominente Beispiele seien hier die Architekturstudenten Tsutomu Nihei oder Manuele Fior genannt.
Das wahnwitzige Projekt jedenfalls, das Arsènes Vetter Roger hier stemmen will, den Bau einer Stadt in unzulänglichem Gelände, entspricht dem vermeintlich heilsbringenden Wahnsinn anderer Conquistadores vor ihm. Schrauwen nennt dann auch Werner Herzogs Filme als Einfluss, wo sich Metaebene, Realität und Spielhandlung am Ende ebenfalls als unentwirrbar zeigten.
Die das überkandidelte Unterfangen zusätzlich verkomplizierende Affäre von Marieke und Arsène, deren Entwicklung von teilweise Freud’scher Auf-die-Zwölf-Symbolik unterfüttert wird – so wird der Penis zum Fisch, der Schlüssel zum Fortsatz der Erektion und so weiter – weist zudem auf den nicht zu vernachlässigenden Aspekt der Nutzung innerfamiliärer Bande zum sippengerechten Stammerhalt hin, der die kulturelle Hegemonie sichert.
Nebenbei wird vom Autor zweimal zur Leseunterbrechung geraten, was aber bei einem Comic mit einer derart den Lesefluss forcierenden Grundanlage ausgesprochen schwer fällt. Die surrealen Kapriolen und ihre bildliche Umsetzung lassen einen stets neugierig zum nächsten Höhepunkt weiterblättern, die suggestiven und von doppelbödigem Humor nah an der Grenze zu hysterischer Verzweiflung durchtränkten Sätze tun ihr Übriges dazu; zweckmäßig in einem von Schrauwen selbst besorgten Lettering angelegt, dessen minimale Schwankungen und Unebenheiten das maschinelle Erscheinungsbild gebührend unterlaufen. Sprechblasen hat es übrigens auch so gut wie keine; ein Tribut an die Ära des Zeitungsseitencomics, indem das Vorurteil des dunklen Kontinents fröhliche Ur(wald)stände feierte. Die Linienführung ist vorwiegend klar, die Fläche hat in den Panels stets Vorrang vor dem Detail, was dem allumfassenden Wahnsinn noch mehr Raum zur Entfaltung verschafft. Manchmal wird aber die Linie doch etwas dicker getuscht, was dann stilistisch ein wenig an Schrauwens Landsmann Alain Muñoz und dessen „L’Opinel“ erinnert. Außerdem lebt Schrauwen in opulenten Doppelseiten seinen Hang zum dekorverliebten Schmuckbild aus, wenn ihn die Luftigkeit seiner Panelarrangements zu langweilen beginnt.
Somit ist Olivier Schrauwens „Arsène Schrauwen“ nicht nur ein durch seine souverän gehandhabte stilistische Vielfalt besonderes Werk, es wird dieser durch seine vielschichtige Thematik überhaupt erst gerecht – was das Kennzeichen für einen gelungenen Comic ist. Dadurch, dass hier zudem die Regeln der Kunstform redefiniert werden, ragt er jedoch heraus.
Olivier Schrauwen: Arsène Schrauwen, Übersetzung: Helge Lethi, Lettering: Olivier Schrauwen. Reprodukt, 260 Seiten, 39 Euro.
Veranstaltungshinweis: Bis zum 29. April sind sind in der Bibliothek am Luisenbad in Berlin (Travemünder Str. 2, D–13357 Berlin) Zeichnungen und Drucke von Olivier Schrauwen aus “Arsène Schrauwen” zu sehen. Am 7. April um 19.30 Uhr findet die Buchvorstellung von „Arsène Schrauwen“ im Puttensaal der Bibliothek statt. Es gibt einen Sektempfang zur Feier des neuen Buches sowie des 25-jährigen Jubiläums des Reprodukt-Verlages.
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