Castorfs allerletzte Volksbühnen-Premiere: Zum Traum wird hier die Zeit
Nostalgisch, witzig, sogar innig: Frank Castorfs zelebriert mit dem großartigen Dostojewski-Abend „Ein schwaches Herz“ seinen Abschied von der Volksbühne.
Es wird ein fröhliches Begräbnis, eins erster Klasse – wozu man früher in südlicheren Gefilden mit ihren „Pompfüneberern“ sagte: a schöne Leich’! Und in den Süden, heraus aus dem russischen Schnee oder den Gräbern der untot Lebenden sehnen sich auch die Figuren dieses großen Abschiedsspektakels an der Berliner Volksbühne.
Frank Castorf hat nach seinem „Faust“, der vermeintlich letzten FC-Inszenierung am alten, demnächst von Chris Dercon in ungewisse Zukünfte hin renovierten Haus, nun noch eine allerletzte nachgelegt. Sie heißt melancholisch „Ein schwaches Herz“, wie eine 1848 vom jungen Dostojewski im Jahr der gescheiterten Revolte gegen Europas Metternich-System und etwa gleichzeitig mit Marx/Engels’ „Kommunistischem Manifest“ geschriebene Erzählung.
Auf die Barrikaden gehen
Irgendwann ist im Verlauf der fast vier (pausenlosen) Stunden zwar mal von den ’48er-Barrikaden die Rede, aber das sind allenfalls Koinzidenzen in und auf Castorfs weitmaschigem Assoziationsteppich. Nein, es ist am Ende ein eher anrührend sanfter, von heiterster Schwermut erfüllter Abend. Und daran hat der herausragende Schauspieler Georg Friedrich seinen starken Anteil. Er ist ja Österreicher, kommt aus dem Land der Pompfüneberer, und sein mit frischem Ruhm (Silberner Berlinale-Bär, Deutsche Filmpreis-Lola) gekröntes Haupt hat er kahl rasiert. So tritt er in schwarzem Aufzug ganz leise ein ins Spiel, ähnelt derart kahlköpfig einem Nosferatu und ist doch ein selbst vom Leben und der Liebe ganz Aufgesaugter, in dessen Brust sehr heftig das schwache Herz schlägt.
Nosferatu, die Anmutung ist kein Zufall. Denn Castorf spielt eine schwarze Komödie. Mit allerlei Slapsticks und Filmzitaten. Ganz am Ende sogar mit einem selbstgedrehten Stummfilm, der einmal zu den absoluten Unvergesslichkeiten seiner Volksbühnenära gehören wird.
Als Raum-Hommage an den verstorbenen Bert Neumann sind Parkett und Bühne wieder in einer schräg ansteigenden Szenerie vereint; das Publikum verteilt sich auf wenigen Sitzen und ansonsten den schwarzen Neumann-Sandsäcken im Raum: links und rechts von einer Schneise, auf der sich zusammenkrachende Holzbetten, beidseitig begehbare Schränke, Tische und Fundusstücke lose aneinanderreihen und auf Nina von Mechows Bühne einen Boulevard der Dämmerung ergeben. Für acht Spieler in ihren wechselnden, sich gelegentlich austauschenden Rollen. Where anything goes.
Theater als Zeitmaschine
Eigentlich geht’s um die Freunde Wassja (Georg Friedrich) und Arkadij (Mex Schlüpfer), in deren Wohngemeinschaft auch Wassjas Verlobte Lisa (Kathrin Angerer) einschwebt. In melodramatischer Eintracht, die nicht einmal Wassjas gefürchteter Chef stören will. Doch die Lohnschreibarbeit scheint den zur höheren Dichtung strebenden Wassja, einen Seelenverwandten von Herman Melvilles Schreiber Bartleby, zu überfordern. Wie überhaupt alle Welt in das vermeintliche Idyll dringt, es durcheinanderwirbelt.
Die diversen „Herz“-Motive werden nämlich verquirlt mit einer anderen Dostojewski-Figur namens Bobok (Hitchcock hätte sie einen typischen MacGuffin genannt), zudem mit einer Farce von Michail Bulgakow in der Verfilmung des sowjetischen Komödienregisseurs Leonid Gaidai: worin ein verrückter Ingenieur mittels einer Zeitmaschine Zar Iwan den Schrecklichen und seine Bojaren von einem mittelalterlichen Kreml in eine avantgardistisch moderne Genossenschaftswohnung versetzt. Der kuriose Film, eine russische „Monsieur Tati“-Variante, irrlichtert hier über die im Hintergrund aufgehängte Leinwand. Während live eine von Margarita Breitkreiz witzig und blondperückig gemimte Erfinderin an einem frühtechnischen Schaltpult herumhebelt, um ihrerseits eine Zeitreise in die Vergangenheit zu ermöglichen.
Das passt dann wieder zu den irgendwie Untoten aus Dostojewskis über den dadaistischen MacGuffin hinaus zitierter Friedhofserzählung „Bobok“. Was dem massigen Akteur Daniel Zillmann, der eine Mischung aus Bobok, Hausmeister und Iwan dem Schrecklichen darstellt, die schöne Gelegenheit gibt für den Satz: „Ich kann nicht gehen. Ich muss bleiben.“ Das lässt sich auf Grabtote, in der Morgendämmerung heimkehrende Vampire oder auch den fromm vergeblichen Wunsch eines Volksbühnenfans nach ewigen Castorf-Zeiten beziehen. Fausts „Verweile doch ...“ erfährt so sein satyrisches Nachspiel. Bei dem Daniel Zillmann auch dadurch imponiert, dass er einen Tag zuvor für den erkrankten Hendrik Arnst eingesprungen ist und mit der hilfreichen Souffleuse ein virtuoses Duett bildet.
Willkommen in Senftenberg
Natürlich kreischen und albern sie (fast) alle wieder, bis die Fetzen fliegen. Und schon der erste Satz des Abends sorgt für Lacher: „Mann, ey, ich komm mir vor wie in Senftenberg!“ Das ist halt ein bisschen DDRDostojewski, ein Insiderjoke. Doch Castorfs Kunststück ist, dass er hier Erwartungen und Gewohnheiten immer wieder bricht. Also: Nur wenige ersetzende Livecam-Videos, die Schauspieler bleiben zumeist ganz bühnenpräsent. Sind wieder selber live, auch als traumhaft reale Gespenster. Und deren schönstes ist eben Georg Friedrichs Wassja in schlottrigem Schwarz.
Friedrich gleicht als Liebender einem Glücksraben mit versengten, abgetrennten Flügeln. Todtraurig, lebenskomisch. Sein leiser, langer Dialog mit der hier wunderbaren Jeanne Balibar als Hutverkäuferin Madame Leroux, bei der er ein „Häubchen mit kirschroten Bändern“ für seine Lisa ersteht, ist von erstaunlicher: Innigkeit. Friedrich spielt das ohne alle feuchte Sentimentalität, aber voller Unruhe des Gefühls. Mit glühendem Blick. Ein graziöser Paniker, der völlig absticht von dem so oft hysterischen Volksbühnenton. Und am Ende, als Wassja statt zur Literatur und zur Liebe zu gelangen, zum Militär muss, gereicht das zum großen Finale. Mit tollem Theaterkino.
Im Stechschritt voran
Wassja wird nun zum Woyzeck, paradiert auf der Leinwand mit irrem Stechschritt vor dem Lauf-Rad-Wahrzeichen der Volksbühne, derweil oben auf dem Dach drei Handwerker (einer sieht aus wie der junge Buster Keaton) stummfilmhaft am „Ost“-Schriftzug putzen. Als Wassja schließlich von Irrenärzten in einem vergitterten Wagen abgefahren wird, sieht man aus seiner Perspektive das Theater langsam verschwinden. Doch da findet ein Kind im Rasen vor der Volksbühne Wassjas Schreibfeder und hält sie in den Himmel. Als Hoffnungszeichen.
Wieder am 5., 10., 30. Juni.