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Sarah Nemtsov.
© Georg Moritz

Komponistin Sarah Nemtsov mit Busoni-Preis geehrt: Der Stille Töne ablauschen

Die Komponistin Sarah Nemtsov wird mit dem Busoni-Preis und einem Konzert geehrt. Ein Treffen.

In dem kurzen Zitat, mit dem Sarah Nemtsov ihre Webseite eröffnet, klingt schon vieles von dem an, was ihre kompositorische Arbeit prägt: „Immer sind die Wörter im Kampf mit der Abwesenheit“, heißt es da, „mit dem, was sie nicht sagen können. Es ist die Abwesenheit, die den Wörtern Hör- und Sichtbarkeit verleiht, die großen Zwischenräume des Schweigens zwischen den Wörtern, ohne welche die Wörter unsichtbar wären.“ Statt „Wörter“ könnte hier auch „Töne“ stehen – die Stille dazwischen, das Ungesagte, Unsagbare machen sie überhaupt erst zu dem, was sie sind.

Entnommen hat Nemtsov, die 2008 eine Oper mit dem Titel „L'Absence“ geschrieben hat, das Zitat dem Gesprächs- und Gedichtband „Die Schrift der Wüste“ von Edmond Jabès, was auf ein anderes wesentliches Moment ihrer Tätigkeit hinweist: Ihre Musik basiert auf – und ist häufig das Ergebnis der Auseinandersetzung mit – Literatur. Wer das überprüfen möchte, kann am kommenden Samstag in die Akademie der Künste am Pariser Platz gehen, dort wird das Ensemble Adapter ihr Stück „A long way away“ aufführen, nach W. G. Sebalds Erzählung „Die Ausgewanderten“. Anlass: Sarah Nemtsov erhält dieses Jahr den von Aribert Reimann gestifteten Busoni-Preis.

Ein schöner Erfolg für die erst 33-jährige Komponistin aus Oldenburg, die sich schon mit fünf Jahren am Klavier Geschichten und Melodien ausgedacht hat, komplett mit Gewitter und Blitzen („natürlich waren das Stilkopien“), die mit sieben Blockflöte von der Vermieterin lernte, die ab 13 wusste, dass sie Komponistin werden wollte und dann in Hannover und an der Berliner UdK Komposition sowie Oboe studiert hat. Die auch das Glück hatte, schon früh den richtigen Menschen zu begegnen. Ihrer Vermieterin zum Beispiel: „Sie hat mir beigebracht, wie sehr jede Note von Bedeutung ist, wie wichtig es ist, dass ich nicht wegdrifte.“ Oder ihrem Onkel, auch er Komponist: „Er riet mir, nur noch im Kopf zu schreiben. Nicht das zu komponieren, was ich auch am Klavier spielen kann. Das war ein enormer Entwicklungssprung für mich.“

„A long way away“, uraufgeführt im Januar 2012 beim Berliner Ultraschall Festival, ist eigentlich der vierte Teil eines Zyklus aus sieben Teilen, den Nemtsov 2010 und 2011 komponiert hat, auf Texte von Mirko Bonné (dieses Jahr nominiert für die Shortlist des Deutschen Buchpreises), Marcel Proust oder Walter Benjamin, etwa dessen „Berliner Kindheit um 1900“. Es ist die Spannung aus analytischem Denken und Poesie in Benjamins Texten, die Nemtsov so anzieht. Wobei sie nie von „Vertonung“ sprechen würde, sondern von musikalischer Lektüre, von „Klangassoziationen“.

So auch bei W. G. Sebald. Die vier „Ausgewanderten“ löschen sich selbst aus, jeder auf seine Weise. Die große Leerstelle, das was verschwiegen, angedeutet wird, der „Zwischenraum“: Alle vier sind von der Shoah traumatisiert. Nemtsov vollzieht die Textproportionen in ihrer Komposition nach, die sie taktweise ausgerechnet hat. Sebalds Technik, Realien wie Fotografien in den Text einzufügen, ihm damit die Aura einer Dokumentation zu verleihen – diese Technik zeichnet sie nach, indem immer dann, wenn im Text ein Foto auftaucht, in der Musik etwas Vertikales geschieht, ein Schlag, ein Einwurf, das Geräusch eines Weltempfängers. In der Geschichte vom Grundschullehrer Paul Bereyter, der sich auf die Schienen legt, sind die rhythmischen Stampfgeräusche des Zuges im Schlagwerk nachempfunden, dazu Ratschen und Kindertröten, die auf das jüdische Purim-Fest verweisen. Die letzte, düsterste Geschichte vom Maler Max Aurach, der seine Zeichnungen immer wieder ausradiert, wird nur noch von drei Streichern erzählt.

Aber: Im Grunde repräsentiert „A long way away“ bereits ein überwundenes Entwicklungsstadium von Sarah Nemtsov. Die vier Geschichten werden nämlich noch linear nacheinander präsentiert, was eigentlich mit der Gegenwart nicht mehr viel zu tun hat. Die ist geprägt von Gleichzeitigkeiten, von Informationsschwall und schweifender, geteilter Aufmerksamkeit, hervorgerufen durch Smartphone, E-Mails, SMS. Nemtsov hat darauf konzeptuell reagiert mit ihrem neuen, im Oktober in Helsinki uraufgeführten Werk „Zimmer 1-3“ nach „The Waves“ von Virginia Woolf: drei Stücke, die gleichzeitig erklingen. Die Harfe wird nach und nach ausgedünnt und ausgelöscht, ersetzt durch Bassflöte, Kaoss Pad (ein Sampler, der vor allem von DJs benutzt wird) und elektronisch verstärktem Streichquartett. Immer geht es um Unschärfen, Rückungen, Verstimmungen – den Versuch, eine zugleich überkomplexe und oberflächenverliebte Gegenwart in Musik abzubilden. Berlin ist der richtige Ort dafür. Sarah Nemtsov lebt seit neun Jahren hier, am Charlottenburger Lietzensee, verheiratet mit dem Pianisten Jascha Nemtsov. „Ich empfinde das Leben hier als pures Glück. Wegen der Vielfalt, sie ist immer ein Zeichen von Freiheit.“

Und Busoni? Nach dem ist der Preis, mit dem sie ausgezeichnet wird, ja immerhin benannt. Der Komponist Ferruccio Busoni (1866-1924), ein Italiener, der nach Berlin übersiedelte und auf dem Friedhof an der Stubenrauchstraße begraben wurde, ist heute vor allem wegen seiner Schrift „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ (1907) bekannt. Und genau hier findet Sarah Nemtsov auch die meisten Anknüpfungspunkte. Mit rund 400 Jahren, schreibt Busoni, sei die abendländische Musik ja noch nicht alt: „Das Kind – es schwebt! Es berührt nicht die Erde mit seinen Füßen. Es ist fast unkörperlich. Es ist tönende Luft.“ Dieses Bild vom Kind lässt Sarah Nemtsov einfach nicht los. Für sie steckt darin die Vorstellung von der Musik als der freiesten Kunst – und die Notwendigkeit, sich keinen „Strömungen“ zu unterwerfen. „Es ist eine Utopie“, sagt sie. Und zu Utopien gehört, dass man an ihnen festhält.

Akademie der Künste, Pariser Platz, Mitte, 30.11., 19 Uhr

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