Osterfestspiele Baden-Baden: Zum Goldklang wird hier der Raum
Exerzitium in Achtsamkeit: Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker eröffnen mit einer prachtvollen „Parsifal“-Inszenierung die Osterfestspiele Baden-Baden.
Auf den allerletzten Metern hat es doch noch geklappt. Eigentlich wollte Simon Rattle den „Parsifal“ ja schon 2003 machen, bei seinen ersten Osterfestspielen mit den Berliner Philharmonikern. Doch dann dirigierte sein Vorgänger Claudio Abbado Wagners Bühnenweihfestspiel im Jahr davor in Salzburg. Also verschob Rattle seinen Plan auf 2013. Da aber zogen die Philharmoniker mit ihrem österlichen Festival nach Baden-Baden um, mussten aber das geplante Stück wieder Österreich überlassen, für die Salzburg-Nachrücker Christian Thielemann und seine Dresdner Staatskapelle.
Im sechsten Baden-Badener Frühling ist es nun also soweit: Drei Monate, bevor Sir Simon die künstlerische Leitung der Berliner abgibt, betritt er das Dirigentenpult im 2500-Plätze-Festspielhaus. Das heißt: Er schleicht sich unbemerkt herein, während das Publikum noch vorfreudig tuschelt, und lässt das Vorspiel überraschend beginnen, so wie das eigentlich sonst nur in Bayreuth klappt, dank des abgedeckelten Orchestergrabens. „Parsifal“ war die erste Wagner-Oper, die Rattle vollständig dirigierte, vor 20 Jahren in Amsterdam. Obwohl ihn der Komponist seit Teenagertagen fasziniert, näherte er sich ihm vorsichtig, mit Respekt. Der Rat des Baritons Robert Lloyd, sich dem Œuvre des Deutschen rückwärts zu nähern, von Debussy her, ließ den Knoten platzen.
Orchester im Schwebezustand
Der französische Komponist begann seine Karriere als glühender Wagnerianer, wurde aber nicht zum Epigonen, sondern ging seinen eigenen, wagner-kritischen Weg. Den er allerdings ohne die Analyse der Musikdramen, besonders des „Parsifal“, nie gefunden hätte. Mit Debussys Oper „Pélleas et Mélisande“ im Ohr vertiefte sich Rattle damals in die Partitur – und in Kenntnis dessen, was Wagner musikgeschichtlich ausgelöst hat, öffnete sich ihm das viereinhalbstündige Werk. „Es fühlte sich an wie eine der kürzesten Opern, die ich je dirigiert hatte“, berichtet er im Baden-Badener Festspielmagazin. Fast schien es ihm, „als hätten sich beide Komponisten gegenseitig beeinflusst“. Debussy träumte schließlich von einem „Orchester ohne Füße, also befreit vom Bassfundament, das der traditionelle Tonsatz fordert“. Die Urform dieses Traums ist für Rattle der „Parsifal“.
Genau so dirigiert er das Werk auch. Vom ersten Takt an versetzt er das Orchester in einen Schwebezustand. Hier wird nicht Musik gemacht, sie ereignet sich, verströmt sich, als unablässige akustische Brandung. Es ist ein sanfter Wellengang, ein Exerzitium in Achtsamkeit für die Orchestermitglieder. Genau aufeinander zu hören, mitzudenken, was die Kollegen gerade spielen, dafür sind die Philharmoniker berühmt. So können sie hier auf einem einzigen, kollektiven Atem musizieren. Dabei entsteht ein absolut betörender Klangfluss, samtig und geschmeidig, weil sich Bläser und Streicher perfekt mischen. Ein Klang, der von Innen heraus leuchtet, mit einem zarten Goldschimmer.
Die Bühne in Idealbesetzung
Natürlichkeit ist Rattles Credo für diese Oper, die mit ihrem langen Dialogen, Prozessionen und umständlichen rituellen Handlungen jeden Dirigenten zum Zeit-Zerdehnen verlockt, zum weihrauchigen Zelebrieren. In Baden-Baden erklingt der „Parsifal“ mit klarem Blick für die Strukturen und zugleich mit Demut, weshalb es auch dem Zuhörer leichtfällt, hellwach zu bleiben über die lange Distanz und selbst die weitschweifigsten Monologe als etwas Natürliches, Inspirierendes zu empfinden. Wobei die Produktion allerdings auch eine Idealbesetzung aufbietet. Franz-Josef Selig singt den Gurnemanz so, wie die Philharmoniker spielen: prachtvoll und doch differenziert bis in die feinsten Verästelungen der musikalischen Rhetorik. Es klingt tatsächlich spontan, wenn er die Vorgeschichte des Konflikts ausbreitet, von Titurel erzählt, dem Gründer der Gralsgemeinschaft, von dessen Sohn Amfortas und seinem Konflikt mit Klingsor, dem abgewiesenen Bewerber, der den Heiligen Speer an sich bringen konnte und damit Amfortas jene Wunde beibrachte, die sich nicht schließen will.
Evgeny Nikitin ist als Klingsor angemessen vulgär, Gerald Finley ein leidenschaftlich leidender Amfortas, ebenso im Geiste zerknirscht wie in der Seele getroffen wegen seines Sündenfalls, jenem Moment der Schwäche, als er sich der von Klingsor befehligten Verführerin Kundry hingab. Kundry ist die heikelste Frauengestalt in Wagners Werk, das an widersprüchlichen weiblichen Charakteren wahrlich nicht arm ist. Denn sie dient ja nicht nur dem Bösen, sondern versucht gleichzeitig ihre Schuld abzutragen, indem sie Amfortas mit Medizin aus fernsten Ländern versorgt. Für immer verdammt, weil sie Jesus am Kreuz verlacht hat, Hure und Heilige, dem einen Mann unfreiwillig Untertan, dem anderen unterwürfig zugetan – stimmlich stellt diese Bipolarität jede Interpretin vor schier unlösbare Aufgaben. Ruxandra Donose entscheidet sich für die Menschlichkeit, zeigt bei der Liebeszwangsarbeit wie im Nächstenliebesdienst immer den humanen Kern ihrer Figur.
Textgetreue Inszenierung
In einer schönen Freundschaftsgeste hat Simon Rattle die Rolle des Titurel Robert Lloyd angetragen, dem Mann also, der ihn einst zur Beschäftigung mit „Parsifal“ ermutigte und der 1998 sein Gurnemanz war. Lloyd singt den greisen König mit marmorner Kühle, einer Stimme wie aus dem Grab. Mit der Wahl von Stephen Gould als Parsifal schließlich entschied sich auch gleich die inszenatorische Deutung des Titelhelden: Der Tenor ist nicht nur optisch eine wuchtige Erscheinung, sondern auch stimmlich. Rumpelig-robust gestaltet er die Partie, ähnlich wie bei seiner Paraderolle des Siegfried.
Vom Libretto her ist das durchaus gedeckt, denn dieser reine Tor ist bei Wagner keineswegs ein verkapselter Feingeist, der noch nicht von der Muse geküsst wurde, sondern jemand, der mangels Argumentationsfähigkeit schnell zuschlägt.
Dieter Dorn kann damit gut leben. Weil er textgetreu inszenieren will. Einen „geduldigen Regisseur“ hat sich Simon Rattle gewünscht und in dem 82-Jährigen den richtigen Partner gefunden. Wäre da nicht das abstrakte Bühnenbild von Magdalena Gut – schräg gestellte Spanplatten und Holzgerüste für die Gralsburg, Kuben verschiedener Größe für Klingsors Zaubergarten – , man könnte sich glatt in einem Passionsspiel wähnen.
Faustdicker Schluss
Handwerklich ist das altmeisterlich gemacht, alles entfaltet sich organisch in diesem szenischen Arrangement. In lumpig-mittelalterlichen Kostümen (Monika Staykova) wallen die Massen über die Szene, bedächtig wird mit Requisiten hantiert, zum Vorspiel gibt es etwas expressionistischen Ausdruckstanz à la Mary Wigman, die Blumenmädchen erinnern an die Haller-Revuen der 20er Jahre im Berliner Admiralspalast.
Erst in der letzten Minute gestattet sich Dorn dann doch einen eigenen Gedanken: Der Chor will von Parsifal als neuem Gralsherrscher nichts wissen und geht einfach ab. Der Vorhang senkt sich, Kundry steht allein im Scheinwerferlicht. Ein faustdicker Schluss. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis. Das Unbeschreibliche, hier ist’s getan, das ewig Weibliche zieht uns hinan.
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