zum Hauptinhalt
Selbstverortung. Der Künstler Michael Rakowitz baut Objekte nach, die aus dem Nationalmuseum in Bagdad verschwanden.
© Jens Ziehe, 2016

Kindl-Brauerei in Berlin-Neukölln: Zentrum für zeitgenössische Kunst eröffnet

In Berlin-Neukölln eröffnet die Kindl-Brauerei jetzt komplett als Zentrum für zeitgenössische Kunst. Man will ergründen, was Zeitgenossenschaft ist.

Bereits auf dem Weg in die Kindl-Brauerei bekommt man einen differenzierten Eindruck unserer Zeit. Vor dem Jobcenter am Rollberg stehen zwei junge Menschen an einem Stehtisch und beantworten Fragen zu Hartz IV. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schrauben sich die Rohbauten für 120 neue Eigentumswohnungen in den Himmel. Beides ist Realität in Neukölln, und ab jetzt gibt es dort auch einen Ort, an dem über die Realität und wie wir sie wahrnehmen nachgedacht werden soll: An diesem Samstagabend eröffnet auf dem Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei das vom Ehepaar Burkhard Varnholt und Salome Grisard initiierte „Kindl – Zentrum für zeitgenössische Kunst“.

Nachdem schon seit 2014 immer mal wieder Teile des Gebäudeensembles mit Ausstellungen, Lesungen, Konzerten und Diskussionen bespielt wurden, sind nun alle Ausstellungsflächen fertig. „Endlich kann der Dreiklang, für den das Kindl stehen soll, auch wahrgenommen werden“, sagt der Schweizer Kurator Andreas Fiedler kurz vor der Eröffnung. Der Dreiklang, das ist jeweils eine ortsspezifischen Installation im Kesselhaus der ehemaligen Brauerei, sowie eine monografische und eine thematische Schau im neu renovierten Maschinenhaus. Während der belgische Künstler David Claerbout im Kesselhaus mit seinen 20 Meter hohen Wänden schon seit September in einer Computersimulation das Berliner Olympiastadion verrotten lässt, sind im Maschinenhaus 60 Gemälde des Dresdner Malers Eberhard Havekost zu sehen, und die Gruppenausstellung „How long is now?“ versucht, den Begriff der Zeitgenossenschaft zu ergründen.

Kunst macht uns zu Zeitzeugen

Das Verstreichen der Zeit ist beim Kindl nämlich nicht nur in baulicher Hinsicht ein Thema, auch die drei Ausstellungen beschäftigen sich auf unterschiedliche Weise mit dem Begriff der Zeit. „Wir haben lange überlegt, ob wird von einem Zentrum für zeitgenössische Kunst oder von einem Zentrum für Gegenwartskunst sprechen sollen“, sagt Kurator Fiedler. Am Ende entschied man sich für die „Zeitgenossenschaft“, weil diese eine Komplizenschaft mit der Zeit, eine aktive Teilhabe impliziert. „Ich will zeigen, dass wir Kunst nicht nur konsumieren sondern dass sie uns zu Zeitzeugen macht.“

Begreifen soll man das zum Beispiel anhand der höchst unterschiedlichen Bildwelten von Eberhard Havekost, der als einer der interessantesten Maler seiner Zeit gilt und trotzdem noch nie eine große institutionelle Ausstellung in Berlin hatte. Havekost spielt die Malerei in allen erdenklichen Varianten durch, und in dieser reich bestückten Ausstellung kann man seine überwältigende Bandbreite nun auch sehen. In den frisch renovierten Etagen mit den weißen Galeriewänden hat Fiedler sowohl abstrakte als auch gegenständliche Bilder von Havekost nebeneinander gehängt. Man sieht leere, dunkle Bildschirme von Smartphone und TV, neben abstrakten Farbfeldern, und diese wiederum neben rosa Mündern, Dinosauriern und Kabelsalat.

„Hier prasselt alles auf uns ein, so wie es auch in der realen Welt und in den digitalen Medien der Fall ist“, sagt Fiedler, der die Ausstellung bewusst so gehängt hat, dass sich inhaltliche Zusammenhänge ergeben. „Inhalt“ lautet auch der Titel der Schau. Ein Bild mit einer roten monochromen Farbfläche namens „Bikini“ hängt neben einem braungebrannten Frauenbein vor Meereshintergrund. Dabei war Havekosts gedanklicher Ausgangspunkt keineswegs ein Bikini, sondern das Bikiniatoll mit den Atomversuchen. Wenn man das im Kopf hat, rückt auch die hübsche Meeresszene in ein anderes Licht. Als Zeitgenossen müssen wir lernen, zwischen dem Bild und der Wirklichkeit zu unterscheiden. Havekosts Werke basieren oft auf fotografischen Vorlagen, die er mit Pinsel und Farbe auf die Leinwand bringt. Das Motiv spielt am Ende gar nicht mehr die entscheidende Rolle, Havekost geht es um den Prozess. Das entmaterialisierte digitale Bild erhält durch den Akt des Malens eine neue Physikalität. Etwas materialisiert sich auf der Leinwand, ähnlich wie auf einem Bildschirm.

Zur Eröffnung kommen auch die sonst öffentlichkeitsscheuen Besitzer

Havekost arbeitet seit mehr als zehn Jahren immer wieder mit der Metapher des Bildschirms. „Benutzeroberfläche“ hieß eines seiner Gemälde von 1999. Die Leinwand fungiert bei ihm als Schnittstelle zwischen der Vorstellungswelt des Malers und der des Betrachter. Beide mögen dieselbe Zeit teilen, die Wahrnehmung läuft dennoch nicht synchron. Der Zeitpunkt, in dem der Künstler die Fotovorlage auswählt, ist ein anderer als der Zeitpunkt des Malens und ein anderer, als der des Betrachtens. Und zu keinem Zeitpunkt ist die Welt völlig gleich. Was der Betrachter auf einem von Havekosts Gemälde wahrnimmt, könnte also tatsächlich genauso veränderlich sein wie ein Bildschirm, auf dem zu jedem Zeitpunkt etwas anderes angezeigt wird.

Am Ende gewinnt doch immer die Realität. Das sieht man im obersten Stockwerk des Maschinenhauses. Dort hat Fiedler eines der großen Fenster frei gelassen, und so zieht der Panoramablick auf Berlin alle Aufmerksamkeit auf sich. „Ich wollte die Möglichkeit zur Verortung geben“, sagt Fiedler. Und nicht umsonst hängt daneben ein Werk von Havekost, das Bücher in einer Art Regal zeigt. Es heißt „Kontext“. Auch die Gruppenausstellung im Erdgeschoss des Maschinenhauses dreht sich darum, wie wir uns unserer Zeit bewusst werden. Zur Eröffnung am Samstagabend kommen auch die sonst öffentlichkeitsscheuen Besitzer des neuen Kunstkomplexes. Und vielleicht erzählen sie davon, wie sie in ihrer Zeit aktiv geworden sind.

Eröffnung Sa 22.10., 18-22 Uhr, Eintritt frei, sonst: Mi-So 12-18 Uhr, weitere Infos unter www.kindl-berlin.de

Zur Startseite