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Durchgeplant. Es ist ein schmaler Grad zwischen Verschönerung und Veränderung in der Karl-Marx-Straße.
© Doris Spiekermann-Klaas

Sanierung in Berlin-Neukölln: Wie Stadtplaner ein ganzes Viertel umkrempeln

Zwei Stadtplaner wollen Neukölln sanieren. Anwohner wollen, dass alles bleibt, wie es ist. Protokoll eines unmöglichen Versuchs.

Von Katja Demirci

Die Sache mit dem Garten nimmt Herr T. persönlich. Mag ja sein, dass die Gräser nicht für jeden Bedeutung hatten. Für ihn aber schon. Über Jahre hat er sie gegossen und gepflegt, so ein Stadtmensch ist er nämlich, grünverliebt. Jetzt aber ist es weg, sein Gärtchen. Vernichtet im Namen der Sanierung.

„Die Herren“, sagt Herr T. und blickt streng durch die Gläser seiner Brille, „die Herren haben meinen Garten platt gemacht“.

Seit zig Jahren lebt Herr T. in Neukölln, Anzengruberstraße, Eigentumswohnung, günstig erworben kurz nach der Wende. Die Anzengruber war lange eine ruhige Adresse. Bis sich Herr T., ein schmaler Herr mit braunem Haar und heller Weste, plötzlich im Zentrum eines Szenekiezes wiederfand. Szene, die ihn, nicht mehr der Jüngste und wohlhabend schon gar nicht, auszuschließen schien. Und dann passierte die Sache mit dem Garten.

Der war für T. fußläufig erreichbar, um die Ecke. Er lag in einem Bereich der Nachbarschaft, der 2011 zum offiziellen Sanierungsgebiet wurde: 120 Hektar, mitten im Zentrum von Nordneukölln. Die Karl-Marx-Straße, Haupt-Einkaufsstraße der Gegend, wird aufwendig saniert, öffentliche Plätze und Parks in umliegenden Straßen werden aufgehübscht, Schulen im Bereich der parallel verlaufenden Sonnenallee renoviert. Fünfzehn Jahre soll dies dauern, 60 Millionen Euro Budget sind dafür insgesamt eingeplant.

Karl-Marx-Straße/Sonnenallee ist eines von derzeit acht Sanierungsgebieten in ganz Berlin, die Wilhelmstadt in Spandau gehört zum Beispiel noch dazu, die Turmstraße in Moabit oder die nördliche Luisenstadt in Mitte.

Funktionsschwächen beheben, das ist allgemein das Ziel städtebaulicher Sanierung. Einer ungünstigen Entwicklung Einhalt gebieten, so könnte man das auch nennen.

Herr T., der sich über die damit verbundenen Maßnahmen so erregen kann, dass er lieber anonym bleiben möchte, kann da nur lachen. Die Sanierung seiner Nachbarschaft, in seinen Augen ist das ein Feldzug gegen Menschen wie ihn. Als wäre alles Alte, also auch er, nicht mehr erwünscht.

Wenn Planung auf Realität trifft, wird's kompliziert

Stadterneuerung ohne Beschwerden, die gibt es nicht. Sie gehören zum Sanierungsgebiet wie der Lärm der Baustellen. Doch selten ist der Fall so komplex wie in Neukölln, diesem Kiez, der als sogenannter Brennpunkt gilt, als liebenswert, innovativ und sozial schwierig – mindestens.

Um 20 000 Bewohner ist der Bezirk in den vergangenen zehn Jahren gewachsen, 328 000 Menschen leben dort derzeit, offiziell geschätzt stammen sie aus mehr als 160 Nationen. Überdurchschnittlich viele beziehen Hartz IV. Es gibt jede Menge Studenten, die nach ein paar Jahren wieder verschwinden, Familien, die fortziehen, sobald die Kinder schulpflichtig sind, notdürftig untergebrachte Flüchtlinge, Rentner, die seit Jahrzehnten in derselben Straße wohnen. So wie Herr T.

Herr T. hat keine Mailadresse, das Internet interessiert ihn nicht. Er schreibt keine wütenden E-Mails, in denen Sätze stehen wie diese: „Wir wollen unsere Ruhe haben. Warum lasst ihr nicht alles so, wie es ist?“ Diese Mail kam im Büro der Brandenburgischen Stadterneuerungsgesellschaft (BSG) an, bei Alexander Matthes. In den Augen von Herrn T. einer der Herren, die für die Vernichtung seines Biotops anzuklagen sind. Der andere ist Oliver Türk, beim Bezirksamt betraut mit dem Projekt.

Beide sind sie Stadtplaner. Begeisterte. Trotz aller Widerstände, die sich ergeben, wenn das Ideal einer Planung auf die Realität trifft. Was also tun? Und wie?

„Das funktioniert nur über ein gutes Netzwerk“, sagt Alexander Matthes. Die Liste der Beteiligten ist lang.

Alexander Matthes (links) und Oliver Türk betreuen die Arbeiten im Viertel.
Alexander Matthes (links) und Oliver Türk betreuen die Arbeiten im Viertel.
© Doris Spiekermann-Klaas

Das Grünflächenamt ist involviert, Tiefbau eingeschlossen, die Wirtschaftsförderung, das Kulturamt und Hochbauamt, das Ordnungsamt und die Fachämter Jugend und Schule. Außerdem Anwohner und Gewerbetreibende, die sich in Beteiligungsgremien und Lenkungsgruppen zusammengefunden haben.

Und Menschen wie Herr T., die auf Beteiligung pfeifen - und trotzdem meckern. Die Mehrheit.

„Neukölln ist speziell“, sagt Alexander Matthes. Alle hier gesprochenen Sprachen passten niemals auf einen Info-Flyer. „Und die Leute sind sehr eigenständig, alter Arbeiterbezirk eben.“ Die melden sich sofort, wenn ihnen etwas nicht gefällt. Andererseits brächten die kulturellen Institutionen, die Neuköllner Oper etwa, oder der Heimathafen, Menschen aus Ober- und Unterschicht zusammen.

Ein schwüler Dienstagnachmittag an der Karl-Marx-Straße. Matthes, 44, und Türk, 40, kommen die paar Schritte aus ihren Büros in entgegengesetzten Richtungen zu Fuß, der eine groß, der andere eher klein, beide kurz beärmelt, behängt mit Tasche und Rucksack.

Vom Neuköllner Süden aus der Buschkrugallee kommend, verläuft die Karl-Marx-Straße quer durch den Norden des Bezirks Richtung Kreuzberg, wo sie in die Hasenheide mündet. Auf 1,4 Kilometern Länge wird sie im Zentrum Nordneuköllns nun saniert. Die Gehwege werden verbreitert und mit modernsten Laternen versehen, Radwege werden eingezeichnet und die Fahrbahn nebst kurz darunterliegender 100 Jahre alter U-Bahn-Tunneldecke wird in Feinarbeit erneuert, was die ganze Baustelle zu einer sehr komplexen macht.

Die Planer sehen Zukunft. Die Anwohner sehen das anders

Immer ist die Karl-Marx-Straße eine wichtige Geschäftsstraße gewesen, einst ein Boulevard mit Kaufhausketten und Straßenbahn, deren Gleise entlang der prachtvollen Gründerzeithäuser führten, zu denen heute kaum jemand aufschaut.

Nachdem sich jahrelang vor allem Billigläden ansiedelten, soll eine neu gestaltete Straße nun wieder vielfältigere Geschäfte und Cafés anlocken. Die Sanierung soll den Abwärtstrend stoppen.

Alle planenden Beteiligten sehen Fortschritt, Zukunft. All jene, mit denen hier geplant wird, sehen das etwas anders.

Diese Baustelle ist eine Zumutung, sagen die Händler. Es kommen weniger Kunden, und jene, die kommen, beschweren sich. Über den Dreck und den Lärm. Die Ladenbesitzer können Unterstützung beantragen - wenn sie lückenlos ihre Einnahmen der vergangenen vier Jahre nachweisen und zeigen können, dass sie nun weniger verdienen. Doch nicht viele sind überhaupt schon vier Jahre vor Ort.

Städtebauliche Sanierungsmaßnahmen dienen dem Wohl der Allgemeinheit, so steht es im Baugesetzbuch, Paragraf 136. Doch was, wenn die Allgemeinheit so divers ist wie hier?

Direkt an der Karl-Marx-Straße, Luftlinie vielleicht 150 Meter vom Rathaus entfernt, liegt der Alfred-Scholz-Platz, der lange Platz der Stadt Hof hieß und nicht viel mehr war als ein verbreiterter Gehweg an einer Kreuzung. „Es ist kein Zufall, dass der Alfred-Scholz-Platz Ende 2014 als Erstes fertig wurde. Man wollte auch etwas zum Zeigen haben“, sagt Oliver Türk. „Am Anfang stand die Frage: Was kann man aus diesem Platz überhaupt machen?“ Der Verkehr wurde analysiert, in der Folge die Kreuzung eliminiert. Platz schaffen, das war die Idee gewesen - und plötzlich war der da!

Jeder, der will, kann mitmachen. Aber wer will das schon?

Und wieso, würde Herr T. wohl fragen, musste mein Garten dran glauben?

Sein Grünzeug wuchs genau dort auf dem Platz, rund um eine große Platane, die nun stattdessen von einer hölzernen Sitzbank umgeben ist, auf der sich niederzulassen für Herrn T. nicht infrage kommt, so unbequem findet er sie.

Die Stadtplaner haben sich gegen normale Bänke entschieden und für etwas extravagantere Sitzelemente, deren helles Holz bereits ausgeblichen ist, wo fehlende Latten mittlerweile mit Müll aufgefüllt worden sind. Es ist ein schmaler Grat zwischen Veränderung und Verschönerung - und manchmal ist eben witterungsabhängig, was daraus wird.

Besetzt sind die Bänke trotzdem. Ständig. Von kaffeetrinkenden Einkäuferinnen und debattierenden älteren Herren, von Jugendlichen und Kindern. Langjährige Anwohner und neu in ein altes Kaufhaus an der Ecke gezogene Flüchtlinge. Wessen Platz ist das hier?

Jedenfalls nicht mehr der von Herrn T.

Dabei hätte er sich ja einbringen können. Hätte zum Beispiel votieren können für seine Pflanzen. Seit Anbeginn der Planungen für die Sanierung der Umgebung sind schließlich Bürger in einer sogenannten Lenkungsgruppe engagiert, mitmachen kann jeder, der möchte.

Herr T. möchte das nicht. Er hält es für Trug, dass der Bürger mitentscheiden dürfe. Und ein bisschen recht hat er schon. Die Lenkungsgruppe darf mitreden, Vorschläge einbringen, andere ablehnen. An der grundsätzlichen Entscheidung rütteln kann sie nicht.

Ein Beispiel: Platz der Vielfalt solle die Ecke heißen, das wünschten sich befragte Bürger. Platz der Kulturen oder der Toleranz. Die Bezirksverordnetenversammlung beschloss dann, ihn nach dem ersten Neuköllner Bürgermeister zu benennen.

Ein anderes: Die Planer hätten gern Wasserspiele dort installiert, die Lenkungsgruppe setzte Bäume durch.

„Wann ist der richtige Zeitpunkt, die Leute zu involvieren, das ist immer die Frage“, sagt Oliver Türk. „Zu früh ist nicht produktiv, zu spät ebenfalls. Dann heißt es: steht ja schon alles.“ Das Wohl der Allgemeinheit, es ist schwer einzukreisen und im Detail wohl nie zu treffen.

Sieht doch niemand, dass das Kunst sein soll, sagen die Anwohner

„Der Platz soll die Aufenthaltsqualität an der Straße steigern“, sagt Alexander Matthes, ganz klassisch, und ohne Frage, das tut er. Wirkt wie ein kollektives Luftschnappen entlang der wuseligen Straße, deren Lautstärke hier alles übertönt.

Das bunte Pflaster am Boden ist keine verfehlte Bauplanung, es ist Kunst. Jede Bevölkerungsgruppe im Kiez hat ihren eigenen Stein, Grauwacke die Deutschen, gelben Granit aus Namibia jene afrikanischer Herkunft, Izmir Basalt aus der Türkei alle aus dem Nahen und Mittleren Osten, Glas die Staatenlosen.

Sieht doch niemand, dass das Kunst ist, sagen manche Anwohner.

Geht so nicht, mit den rutschigen Glassteinen, sagte das Tiefbauamt und ließ sie abschleifen. Nun sind die Staatenlosen ganz abgestumpft und versteckt, Neuköllner Symbolik.

Auch Wilhelm Laumann hatte sich das mit der Kunst anders vorgestellt. Sichtbarer, irgendwie. Laumann, 63 Jahre alt und selbst seit mehr als 30 Jahren Neuköllner, macht das, worauf Herr T. keine Lust hat: er mischt sich ein als Mitglied der Lenkungsgruppe Karl-Marx-Straße.

Der Name des Platzes, die Kunst, damit haben sie sich in all der Zeit befasst. Doch ihr dringendstes Anliegen ist zugleich ihre größte Niederlage. „Wir haben es fast überhaupt nicht geschafft, dass in der Karl-Marx-Straße noch preiswertes Wohnen möglich ist“, sagt Laumann.

Es ist das Dilemma eines hippen Kiezes und Laumann, zugleich Bezirksleiter des Mietervereins, weiß, wovon er spricht.

Die Mieten im Norden Neuköllns steigen seit Jahren, von rund 5,47 Euro kalt pro Quadratmeter 2009 auf 7,75 im Jahr 2013 und liegen mittlerweile über dem Berliner Durchschnitt von 8,41 Euro.

„Dass eine Veränderung bei der Bevölkerungsstruktur stattfindet, ist ein Fakt“, sagt Alexander Matthes. „Aber ob die Sanierungsmaßnahmen dazu führen, dass dies zu einer Aufwertung von einfacher zu mittlerer Lage im Mietspiegel führt, ist fraglich.“ Fraglich ist auch, ob stimmt, was geredet wird. Dass nämlich ein anderes Verschönerungsprojekt im Kiez von Anwohnern aus Sorge über Aufwertung beschmuddelt wurde.

Zu finden ist es in der Neckarstraße, einmal rüber über die Karl-Marx-Straße, links hinauf. Was sich am oberen Ende der Straße jahrelang wie die Mauer eines Staudamms hinaufwuchtete - die Überbrückung zum neun Meter höher gelegenen Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei an der Rollbergstraße - ist nun einer hellgrauen Treppe gewichen.

Graffiti ist einkalkuliert

Wie kann man so etwas wieder öffnen?, das war die Frage, die Oliver Türk und Alexander Matthes beschäftigte. Wie die unterschiedlichen Teile des Kiezes vernetzen, Wege verkürzen? Mit einer Treppe! Gut einsehbar, damit keine „Angsträume“ entstehen, sagt Matthes. Und auch hier: Kunst. Bemalte Kreise und Streifen aus Aluminium sind auf den Flächen angebracht. Zwischendrin: Graffiti. Die gehören nicht zur Kunst - aber zu Neukölln. In Rosa hat jemand „Ficken“ an eine Wand gesprüht, zwischen einigen der bunten Kreise schlängeln sich schwarze Streifen, auch die grüne Wand am integrierten Aufzug ist beschmiert.

„Graffiti ist einkalkuliert“, sagt Alexander Matthes, „das wird natürlich nicht befördert, aber auch nicht bekämpft, sondern integriert.“ Besprühte Aluminiumplatten können abgeschliffen und neu gestaltet werden, das Graffito tritt in den Hintergrund, aber verschwindet nicht. Der vieltönige Sound Neuköllns, er manifestiert sich hier sozusagen visuell, als wieder und wieder überschriebene Geschichte. Soweit zur Romantik.

Und vielleicht trifft auch hier zu, was Oliver Türk, gefragt nach seiner Vision, sagt: „Ich will der Realität Raum geben.“ Dass der schönste Plan nichts nützt, wenn er an den Bedürfnissen der Menschen vorbeigeht. Oder am Budget. Oder andersherum: Dass Bedürfnisse nicht weiterbringen, wenn sie immer nur die Bewahrung des Alten beinhalten.

Oliver Türk sagt: „Wir brauchen identitätsstiftende Plätze.“

Wenn Identität bedeutet, dass man sich zu Hause fühlt, da wo man wohnt, dann hängt die von Herrn T. aus der Anzengruberstraße an einem dünnen Faden. Dabei ist er gar nicht grundsätzlich gegen Erneuerung. Nur eben tja, vielleicht nicht gerade hier?

„Sehen Sie“, sagt Herr T., „da sitzen nun auf öffentlichen Treppenstufen die Afghanen aus der Flüchtlingsunterkunft.“

Warum sollten die da nicht sitzen?

Da verfinstert sich sein Blick. „Ja“, sagt er, „ich bin eben alt.“

Und was hat das jetzt mit der Sanierung zu tun, Herr T.?

Da lacht er. Nichts natürlich. Und alles.

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