Primavera Sound 2019: Zeig mir deine Krallen, Schwester
Erykah Badu, Rosalía, Solange: Beim Primavera Sound Festival in Barcelona dominierten Frauen die Bühnen und sorgten für Glücksgefühle.
Ihre Nägel sind gut fünf Zentimeter lang und kunstvoll dekoriert. Die Violetttöne passen genau zu dem luftigen Outfit, das Rosalía an diesem frühen Nachmittag im Hotel Princess trägt. Die Sängerin hält hier eine halbe Stunde lang Hof für die Medien. Der Saal ist knallvoll, denn hier sitzt Spaniens derzeit größer Popstar.
Seit vor sieben Monaten Rosalías Album „El Mal Querer“ erschienen ist, liegt ihr nicht nur ihr Heimatland zu Füßen. Ihr Mix aus Flamenco und R’n’B begeistert weltweit. Rosalía tourt gerade durch Europa und die USA, hat Songs mit James Blake und J Balvin aufgenommen, spielt im neuen Film von Pedro Almodóvar mit und gehört zu den Headlinern von Primavera Sound in Barcelona, das die europäische Festival-Saison eröffnet. Ein Heimspiel für die 25-Jährige, die im nahegelegenen Sant Esteve Sesrovires aufwuchs.
Zur Einstimmung hat Rosalía in der Festivalwoche den Song „Aute Cuture“ veröffentlicht, der auf Youtube nach drei Tagen schon über sechs Millionen mal angesehen wurde. Die Sängerin trägt darin imposante goldene Krallen, Nagel-Extensions sozusagen. „Ich fühle mich sehr feminin mit langen Fingernägeln“, sagt sie. „Aber sie sind auch so etwas wie Waffen.“ Im Video demonstriert sie das, indem sie einem Typen die Wange aufkratzt. Vor allem aber sieht es toll aus, wenn Hände mit bunten XXL-Nägeln einen Rhythmus klatschen. Dieses in „Aute Cuture“ mehrfach auftauchende Bild bringt Rosalías Kunst auf den Punkt: Sie verbindet Tradition und Gegenwart, macht Flamenco für das 21. Jahrhundert.
Für die spanischen Fans ist Rosalías Show der Festival-Höhepunkt
Spielte sie vor zwei Jahren noch auf einer kleinen Primavera-Bühne, ist Rosalía diesmal für den Top-Spot am Samstagabend auf einer der beiden Hauptbühnen gebucht. Und einer Gründe dafür, dass dieser Tag der vollste des Festivals ist, zu dem in der vergangenen Woche über 220000 Besucherinnen und Besucher kamen. Für die spanischen Fans – sie sind stets in der Mehrheit – ist Rosalías Konzert eindeutig der Höhepunkt. Schon eine Stunde vor Beginn versammelt sich die Menge, die die Sängerin dann frenetisch jubelnd empfängt und den Eröffnungssong „Pienso en tu mirá“ komplett mitsingt. Auch den Text des neuen Stücks kennen die jungen Leute bereits.
Rosalía trägt ein rosafarbenes Outfit und Glitzerkrallen. Mit ihren sechs Tänzerinnen führt sie auf dem weißen Podest in der Bühnenmitte kleine symmetrische Choreografien auf. Am linken Rand stehen zwei Sängerinnen und zwei Männer, die die Flamenco-Rhythmen klatschen. Reduziert und doch schillernd und kraftvoll wirkt diese Performance, die Rosalía wie eine Matadorin dominiert. Mitunter stoppt sie sogar die Publikumsgesänge. Gänsehautmomente sind ihr Duett mit James Blake, der später noch ein eigenes Konzert spielt, und die fast a capella gesungene Schmerzensballade „Catalina". Liebesunglück ist ohnehin das wichtigste Thema bei Rosalía, so trägt ihr größter Hit den Titel „Malamente“ (schlimm). Doch als sie den Song zum Finale spielt, ist natürlich alles gut, ein seliges Lächeln liegt auf den Gesichtern der Fans.
Es spielen genauso viele Frauen wie Männer
Viele gehen anschließend gleich zur gegenüberliegenden Bühne, auf der die US-amerikanische Sängerin Solange auftritt. Auch sie hat ein weißes Podest und sechs Tänzerinnen dabei, dazu eine siebenköpfige Band – alle in schwarz gekleidet. Sie präsentieren Solanges neues Album „When I Come Home“, mit dem sich die Sängerin aus einer tiefen Krise befreit hat, wie sie in einer emotionalen Ansprache erklärt. Konzentrierter Minimalismus bestimmt diese Show, die eine ganz eigenartige Sogwirkung entfaltet. Erst bei den älteren Songs gegen Ende kommt auch Tanz- und Mitsingstimmung auf.
Dass mit Rosalía und Solange zwei Frauen zur wichtigsten Zeit auf den großen Bühnen spielen, kommt nicht von ungefähr. Denn in diesem Jahr haben die Primavera-Macherinnen und Macher bei den mehr als 331 Konzerten auf ein ausgeglichenes Genderverhältnis (mit einem leichtem Frauenübergewicht von 53 Prozent) geachtet. Das wollen sie ab jetzt immer so halten, weshalb das Motto der aktuellen Ausgabe „The New Normal“ lautet. Wie neu und wenig normal das ist, zeigt nicht nur der Vergleich mit anderen Großfestivals wie dem männerlastigen Berliner Lollapalooza, sondern auch ein Blick auf die Plastikbecher, in denen auf dem Primavera Bier und Softdrinks ausgeschenkt werden. Sie sind mit den Line- Ups vergangener Festival-Jahrgänge bedruckt. Oft muss man in die unteren Reihen schauen, um den ersten Frauennamen zu entdecken – erst in den letzten Jahren rückten sie langsam nach oben.
Den Diversity-Gedanken, den das Festival auch mit zwei Infoständen sowie Flugblättern und Videobotschaften zum Ausdruck bringt, spiegelt bereits der erste der drei Primavera-Haupttage. In der Dämmung tritt die französische Sängerin Hélöise Letissier alias Christine and the Queens auf, die sich neuerdings nur noch Chris nennt, weil das besser zu ihrer queeren Identität passt. Aber auch zu ihrer letzten Platte, auf der sie Begehren aus einer fordernden, leicht machohaften Perspektive thematisierte. Wie befreiend das gewirkt hat, zeigt ihr von Feuerfontänen und Konfettikanonen unterstützter Auftritt, bei der sie ihren Achtziger-beeinflussten Elektropop zusammen mit einem kleinen Tanzensemble in lässig-dynamischen Choreografien präsentiert. Lebensfreude strahlt von der Bühne herab. „No judgement, just love“, sagt Chris einmal. Und ermutigt das Publikum zur Transformation: den Namen ändern, eine Wolke werden – alles sei möglich sagt sie. Und singt ihren frühen Hit „It“ mit der Refrainzeile „I’m a man now“.
Erykah Badu singt einen Stern an
Um Transformationen und Transzendenz geht es auch ein paar Stunden später beim Konzert von Erykah Badu, das alles andere an diesem Tag in den Schatten stellt. Die Meisterin erscheint mit einem zeltartigen Mantel und einem hohen weißen Hut auf der Bühne. Ob sie damit kosmische Botschaften empfängt? Ihr Gesang ist jedenfalls nicht ganz von dieser Welt. Von sanftem Soul-Crooning, zu jazzigen Linien, Rap-Parts bis hin zu schrill in die Nacht schießenden Schreien – die 48-jährige Amerikanerin beeindruckt in jeder Sekunde, auch Dank ihrer phänomenalen Band und den drei Background-Sänger*innen. Badu ist gut drauf, macht witzige Ansagen, singt plötzlich einen Stern an, den sie entdeckt hat. Am Ende gibt es eine Energieaustauschübung mit dem Publikum. Und das Versprechen, dass wir nun unsere Klasse, Hautfarbe und unser Geschlecht überwunden haben.
So ganz klappt das zwar noch nicht, doch fühlt man sich auf dem Festival, das auf einem weitläufigen direkt am Meer gelegenen Areal voller futuristischer Betonbauten stattfindet, für drei Tage wie in einer wunderbaren sonnigen Parallelwelt. Auch Männer sind integriert, allerdings wirkt es immer ein wenig verschoben, plötzlich auf weiße Rockbands wie Guided By Voices oder Kurt Vile & The Violators zu treffen.
Die größten Primavera-Stars sind eindeutig Frauen. Janelle Monáe zum Beispiel, die mit vier Tänzerinnen und fünfköpfiger Band auftritt – an der Gitarre ist ein Quotenmann dabei. Sie führen ein atemberaubendes Soul-Funk-Rap-Spektakel auf, bei dem sich die Sängerin langes Bad in der Menge gönnt und eine kraftvolle Ansage zur Emutigung von Minderheiten macht. „Happy pride“, ruft sie. Die Queers im Publikum jubeln und die Paare küssen sich. Festivalglück!
Die Reise nach Barcelona wurde vom Primavera Festival unterstützt.