Filmfestival Cannes: Bad Boy wird empfindsam
Cannes-Tagebuch (3): Pedro Almodóvar brilliert mit „Leid und Herrlichkeit“.
Wenn erwachsene Männer im Kino weinen, besteht eine gute Chance, dass man sich gerade in einem Film von Pedro Almodóvar befindet. So gesehen am Freitagabend im Grand Théâtre Lumière, wo nach der internationalen Premiere von „Leid und Herrlichkeit“ die Crew und ihr Regisseur in stehenden Ovationen badeten. Antonio Banderas, der das fiktionale Alter Ego Almodóvars spielt, hatte Tränen der Rührung in den Augen, auch Penelope Cruz, im Film Almodóvars junge Mutter, war sichtlich aufgelöst.
Der Begeisterungssturm ist ein würdevoller Cannes-Moment, auch wenn „Leid und Herrlichkeit“ bereits vor zwei Monaten in Spanien in die Kinos kam. Für seine Lieblinge macht Cannes-Leiter Thierry Frémaux immer eine Ausnahme, weswegen Almodóvar trotz allem um die Goldene Palme konkurriert.
„Leid und Herrlichkeit“ ist aber nicht nur die bewegende und im Ton erstaunlich zurückgenommene Bilanz des 69-jährigen Almodóvar. Es ist auch ein Zeugnis der fast 40-jährigen Freundschaft zwischen dem spanischen Regisseur und Banderas. Dass sich Penelope Cruz mit einer vergleichsweise kleinen, aber tragenden Rolle begnügt, sagt viel über die Verbundenheit zu dem ruhiger gewordenen Bad Boy des queeren europäischen Kinos. Für einen hemmungslosen Anhänger des hochgejazzten Melodrams fällt „Leid und Herrlichkeit" angenehm introvertiert aus, der lädierte Körper des in die Jahre gekommenen Regisseurs Salvador Mallo (Banderas) – eine lange Operationsnarbe ziert seinen Brust – zeigt die Spuren eines schonungslosen Lebens.
Bilanz nach 30 Jahren
Almodóvar vervollständigt die Krankengeschichte seines Alter Egos mit einer selbstironischen Animationssequenz, doch sein Film wirkt nie lapidar. 30 Jahre nach seinem letzten großen Film „Sabor“ wird Salvador für die Wiederaufführung des Klassikers zu einer Reihe von Publikumsgesprächen eingeladen.
Die Erinnerung an seine erfolgreiche Karriere zwingt ihn auch zu einer Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit. Er beginnt, Entscheidungen in seinem Leben und in seinen Beziehungen zu hinterfragen: zu seiner Mutter, seinem früheren Hauptdarsteller, seinem ehemaligen Lover – und dem jungen Handwerker, der in ihm als knapp 10-Jährigen sein „erstes Begehren“ weckte. Almodóvar klingt dabei niemals sentimental oder gar larmoyant, „Leid und Herrlichkeit“ findet vielmehr einen Ton und eine (dank subtiler Farbdramaturgie) exquisite Sinnlichkeit, die in seinem Werk neu ist.
Zurückgenommen, aber auf hochgradig artifizielle Weise, ist „Little Joe“ von der österreichischen Regisseurin Jessica Hausner, ihrer ersten englischsprachigen Produktion. Emily Beecham spielte die Biotech-Wissenschaftlerin Alice, die eine Blume gezüchtet hat, mit deren Hilfe sich Menschen in einem Zustand apathischer Glückseligkeit wiederfinden. Sie tauft die Spezies nach ihrem Sohn Joe (Kit Connor), für den sie neben dem Job kaum Zeit findet. Als sie eine Blume heimlich mit nach Hause nimmt, beginnt sie Veränderungen im Verhalten des Jungen zu bemerken. Auch ihre Kolleginnen und Kollegen (Ben Whishaw, Kerry Fox) benehmen sich zunehmend merkwürdig.
Verändert die genmanipulierte Pflanze tatsächlich die Gehirnfunktion, wie die Kollegen vermuten, oder macht die zwanghafte Suche nach dem ultimativen Glücksgefühl die Menschen zu Soziopathen? Mit der antiseptischen Labor-Ästhetik von „Little Joe“ zeigt Hausner nach ihrer Kleist-Verfilmung „Amour Fou“, dass sie auch andere erzählerische Register beherrscht. Dass sie es mit ihrer fünften Premiere an der Croisette nun endlich auch in den Wettbewerb geschafft hat, lässt zudem erahnen, gegen welche Beharrungskräfte eine Regisseurin in Cannes anzukämpfen hat.
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