LIDO Lichtspiele (4): Wut und Goldrausch
Proteste in Nordengland und New Orleans: Filme von Mike Leigh und Roberto Minervini thematisieren in Venedig soziale Unterdrückung.
Wenn das Kino etwas über die sozialen Verhältnisse erzählen will, wendet es sich häufig der Vergangenheit zu, als lägen dort die Antworten auf die drängenden Fragen der Gegenwart. In Venedig laufen in der ersten Woche gleich mehrere Filme, die etwas über den Zustand unserer westlichen Gesellschaften zu sagen haben, mit unterschiedlichen Resultaten. Mike Leigh geht mit „Peterloo“ weit zurück: 1819 war gerade Karl Marx geboren, als die Regierung in Manchester eine friedliche Demonstration niederschlug. Leigh rekonstruiert das Massaker, das das englische Proletariat von London bis in den industriellen Norden einte (erstmals marschieren auch die Frauen), mit pittoresken Details und rhetorischer Emphase als Panorama einer neuen sozialen Bewegung: Die zahlreichen Protagonisten, die ausschweifenden Debatten lassen die Sprachlosigkeit der Linken heute umso deutlicher zutage treten. Es dauerte noch über 50 Jahre, bis in England Gewerkschaften legalisiert wurden. Doch bei aller Wucht, die Leigh (leider nur in den Dialogen) entwickelt, wirkt sein historischer Rekurs schon wie ein Rückzugsgefecht.
Wann überspannt das soziale Gewebe?
Anders der Dokumentarfilmer Roberto Minervini. Dessen schwarz-weißes Dokudrama „What You Gonna Do When the World’s on Fire?“ porträtiert die Bewohner eines schwarzen Viertels in New Orleans vor dem Hintergrund einer Reihe von Gewaltverbrechen. Die Black Panther reformieren sich, doch ihr Kampf erscheint fast idealistisch, wenn anderen die Grundlage für eine gesellschaftliche Teilhabe fehlt. Eine Mutter erzieht allein ihre beiden Söhne, die die Straßen zu ihrem Spielplatz machen, eine Ex-Prostituierte eröffnet eine Bar, die weniger Geschäftsmodell als Zufluchtsort ist. Als man sich gerade fragt, wo das enden soll, geschieht das Unvermeidliche: Polizisten prügeln einen Protest nieder. Minervini filmt aus dem Hintergrund, doch seine Distanz ist nicht minder verzweifelt als Leighs Agitation. Trotzdem ist dieser politische Blick angesichts zunehmend abstrakter Nachrichtenbilder wichtig. Nicht, um das Schicksal von Afroamerikanern zu individualisieren, sondern um die neuralgischen Punkte aufzuzeigen, an denen das soziale Gewebe langsam überspannt.
Da klingt Jacques Audiards rustikal-lakonischer Western „The Sister Brothers“ mit Joaquin Phoenix und Jake Gyllenhaal fast schon wie der Nachgedanke eines utopischen Projekts. Ein philanthropischer Chemiker will mit einer Geheimformel während des Goldrausches im Westen schürfen, um mit dem Gewinn die perfekte Gesellschaft zu gründen. Ein sozialistisches Eldorado sozusagen, errichtet aus Gold. Die Idee ist so bewundernswert wie naiv – im Wilden Westen und heute.
Andreas Busche