Aerosmith live in Berlin: Wurzeln, Wunden und Wunder
Aerosmith und ihr unglaublich fitter Sänger Steven Tyler feiern in der ausverkauften Berliner O2 World eine knallige Rock-Show.
Ein warmer Wind weht Extra-Motivation von der Wuhlheide herüber. Dort haben am Vorabend Black Sabbath eine fulminante Schwarze Messe gefeiert, was Aerosmith-Sänger Steven Tyler mit ein paar freundlichen Worten erwähnt. Persönlich begrüßt er Chris Cornell, der mit Soundgarden im Vorprogramm der Briten gespielt hat und nun mit Familie hinter dem Bühnenmischpult steht. Und, wow, die Stones kommen ja auch noch nach Berlin. Tyler ist sichtlich erfreut mit seiner Band Teil dieses rockhistorischen Pakets zu sein. Denn es gibt ihm – bei aller Bewunderung für die Kollegen, die neben Led Zeppelin ein wichtiger Einfluss auf seine 1970 in Boston gegründete Band waren – eine prima Gelegenheit zu demonstrieren, wer der beste Showman in dieser Legendenreihe ist. Er natürlich.
Den Fitnesspreis wird der 66-Jährige tatsächlich locker abräumen gegen die deutlich hüftsteiferen Herren Osbourne und Jagger. Die Power, mit der Tyler über die Bühne springt, tanzt, stampft ist aberwitzig. Dazu wirbelt er den von bunten Stoffbändern umflatterten Mikrofonständer durch die Luft, als sei er ein Spazierstöckchen. Bedenkt man, was Tylers Körper in den letzten 40 Jahren an Drogenexzessen, Unfällen und Operationen durchgemacht hat, geht dieser Auftritt stark in Richtung medizinisches Wunder.
Tyler umarmt Perry - alles wieder harmonisch ihm Hause Aerosmith
Als die Band nach 20 hochenergetischen Minuten mit dem Schmachtfetzen „Cryin’“ zum ersten Mal das Tempo drosselt, ist Tyler bereits schweißnass und beim ersten Refrain ein wenig kurzatmig. Doch er fängt sich schnell und ist fortan stets auf der Höhe des polternden Geschehens. Er gibt den klassischen Hardrock- Entertainer und hat sich mit Glitzer-Nadelstreifenhose, Nagellack und zwei Pfund Schmuck entsprechend rausgeputzt. Seine lange Mähne – er wuschelt ständig darin herum – hat vorne ein paar graue Strähnen, was ziemlich schick aussieht. Von dem braunen Bart rund um seinen riesigen Mund kann man das leider nicht behaupten. Wie ein gedopter Pfau stolziert Tyler immer wieder über den Steg zum vorgelagerten Bühnenteil, räkelt sich vor der Windmaschine und stellt sein reiches Machogesten-Repertoire aus. Zwischendurch umarmt er Leadgitarrist Joe Perry, seinen einstigen „Toxic Twin“, den er auch mal mitsingen lässt. Alle Streitereien scheinen vergessen, wenn Tyler den hageren, ein wenig an Keith Richards erinnernden Kollegen bei einem seiner Soli anfeuert. Es ist fast schon rührend diese quasi-antike Form der Rockperformance einmal derart ungebrochen und traditionell vorgeführt zu bekommen. So lustig sind sonst eigentlich nur noch AC/DC.
Bei allem Spektakel, das im Übrigen ohne großes Licht- und Bühnenbrimorium auskommt, haben die in Originalbesetzung angetretenen Aerosmith auch eine musikalische Mission: Sie feiern ihre Blues-Wurzel, womit sie zugleich auf die britischen Kollegen sowie auf ihren eigenen Re-Import dieses Erbes verweisen. Programmatisch eröffnen sie das Konzert in der ausverkauften O2 World mit ihrem raubeinigen Cover von Tiny Bradshaws „Train Kept A-Rollin’“ und legen später einen Fokus auf Stücke von ihrer Durchbruchsplatte „Toys In The Attic“, die 1975 dem bluesbasierten Rock einen machtvollen Tritt in den Hintern verpasst hatte.
Die Balladen, Aerosmiths zweite Stärke, spielen in den zwei Stunden nur eine Nebenrolle, strahlen aber besonders hell: Von „I Don’t Want To Miss A Thing“ könnte man ein Lehrvideo der perfekten Kuschelrock-Inszenierung ins Netz stellen. Und die Zugabe „Dream On“ mit Stutzflügel, rosa Licht und Dampffontänen ist ganz wunderbare Zuckerwatte. Zum Abschied zieht Tyler sein Shirt aus, das eine Frauenzunge mit der Aufschrift „Fuck Me“ zeigt, und die ersten Akkorde von Muddy Waters’ „Manish Boy“ erklingen. Mister Jagger, bitte übernehmen Sie.
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