Bonjour Cannes (4): Woody Allen: Mord belebt
"Irrational Man" bei den Filmfestpielen in Cannes: Das mit dem Leben hat Philosophieprofessor Abe Lucas gründlich satt: Forschen, Lehren, Sex – alles nur Ablenkungen von dem mit Scotch gefüllten Flachmann. In Woody Allens "Irrational Man" herrscht Verdruss und erst ein Mord belebt die müden Glieder wieder.
Kann schon sein, dass Woody Allen das schon mal gesagt hat. Kann - noch wahrscheinlicher - schon sein, dass Woody schon mal gesagt hat, dass er das schon mal gesagt hat. Kann alles schon sein. Aber wenn er hier in Cannes bei der bis auf den letzten Platz gefüllten Pressekonferenz vor all den Leuten aus all den Ländern sein doppeltes Lebensmotto mal eben in ewiger Frische zusammenfasst?
Woody Allen: "Das Leben ist bedeutungslos, wir leben in einem Zufallsuniversum"
Die dunkle Seite klingt dann ungefähr so: „Es gibt keine positive Antwort auf die düstere Realität des Lebens. Man kann Kommunist sein oder religiös, diese Systeme funktionieren nicht, aber was soll's, wenn der dadurch fehlgeleitete Mensch sich damit besser fühlt? Das Leben ist bedeutungslos, wir leben in einem Zufallsuniversum, das eines Tages verschwindet mit der Sonne und mit Beethoven und Shakespeare und all dem.“
Und das hellere: „Das einzige, was ich als Künstler tun kann, ist, mich zu zerstreuen. Das kann beim Baseballgucken sein oder beim Filmedrehen. Filme sind eine wundervolle Ablenkung. In solchen Momenten denke ich nicht an den Tod, nicht daran, dass ich eines fernen Tages alt sein werde und solche Sachen.“
Da also sitzt auf dem Podium dieser fast 80-jährige, ein bisschen schwerhörige, aber hellwach mitteilungsfrohe Mann, dessen 48. Film seiner Fangemeinde soeben einige Zerstreuung geboten hat, und sehr schnell ist man nicht mehr bei „Irrational Man“, sondern absolut anstrengungslos bei letzten Menschheitsfragen. Dabei ließe sich die persönlichkeitsgespaltene Weltsicht, die den schwärzesten Existenzialismus ebenso wenig leugnet wie dessen zwischenzeitliche schnippchentechnische Überwindung, ohne weiteres auch aus der Perspektive seines neuesten, von Joaquin Phoenix erst garstig grantelnd, dann besorgniserregend schrillfröhlich verkörpertem Helden herleiten.
Russisch Roulette als Partygag, ein Mord aus Ennui
Abe Lucas ist soeben als Philosophieprofessor an eine kleine Uni auf Rhode Island berufen worden und fundamental lebensmüde. Frühere humanitäre Einsätze an allerlei Weltbrennpunkten haben ihn desillusioniert, das wissenschaftliche Schreiben ist ihm ebenso verleidet wie die pädagogische Arbeit, und auch die Lust auf Sex hat er seit einem Jahr definitiv satt. Lieber hält er sich schon vormittags an seinen mit Scotch gefüllten Flachmann, und bei Studentenpartys, zu denen er sich widerwillig einladen lässt, fällt er dadurch auf, dass er mit einem hergereichten Revolver mal eben Russisch Roulette an sich selber vormacht. Fünfmal Abdrücken bei einer Patrone in der Trommel, und nix! Glück hat dieser Abe, das muss man ihm lassen.
Glück hat der offenkundig so heilungsbedürftig Verfinsterte auch bei den Frauen - die ehelich frustrierte Chemieprofessorin Rita (Parker Posey) verfällt ihm ebenso wie die mit einem herzenslieben Kommilitonen (Jamie Blackley) liierte Jill (Emma Stone). Wobei Abes entschieden platonische Nähe zu Jill eher zufällig erschüttert wird. Bei einem Gespräch am Nachbartisch im Diner erfährt Abe von einem Richter, der einer Frau in einem Sorgerechtsstreit schweren Verdruss zu machen droht. Kurzerhand fasst er den Entschluss, den ihm völlig fremden Mann umzubringen, „um die Welt zu einem besseren Ort zu machen“. Und - hokuspokus! - schon findet der Prof zurück zu Lebens- sowie Liebenssinn.
Es fehlt an Überraschung, an funkelnd selbstironischem Sarkasmus
Das Töten aus höherer Moral oder nur einem übergeordneten Zweck, das die Unmoral des Aktes selbst zu verleugnen sucht, ist das Leitmotiv in Dostojewskis „Schuld und Sühne“ (genauer neu übersetzt: „Verbrechen und Strafe“), wo Raskolnikow ebenfalls aus einem mitgehörten Wirtshausgespräch die Motivation und Legitimation zum „erlaubten Mord“ bezieht. Woody Allen hat den Roman schon zweimal, in „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ (1989) und „Match Point“ (2005), ausdrücklich zitiert; in beiden Filmen kommen die Täter anders als im Roman, wo der Mörder sich schließlich stellt, ungeschoren davon.
Für „Irrational Man“ hat sich Woody Allen, auch in manchem Handlungsseitenstrang Dostojewski folgend, eine dritte Auflösung ausgedacht, auch sie fatal, aber im Abgang verblüffend humoristisch. Und vor allem simpel.
So hübsch das Setting, so federleicht anfangs die Konstruktion - schon bald stört an „Irrational Man“ eine gewisse Redundanz der zur Figurenentwicklung gehörenden Szenen, und nach Abes arg plötzlicher Psycho-Wende ist vieles geradezu erdrückend vorhersehbar. Dass es der zerquälten Figur Abe am Allen-typischen funkelnd selbstironischen Sarkasmus fehlt, mag noch strukturell hinzunehmen sein; weniger schön ist die immer massivere Zuflucht zum Voice-Over und zur nahezu ununterbrochenen Jazz- und Bluesberieselung - ganz so, als habe Allen seinen Bildern, seinem Rhythmus, seinem Tempo diesmal selbst nicht so recht getraut.
Aber wer wollte jetzt gleich von einem Altersnebenwerk sprechen, wo der Meister doch - in Cannes und überhaupt - so frech über das Alter spottet? Kann schon sein, dass „Irrational Man“ nicht zu seinen besten Filmen gehört. Etwas Schlechteres als den nächsten Woody Allen aber finden wir überall.
Jan Schulz-Ojala
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