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Geert Wilders, Vorsitzender der niederländischen rechtspopulistischen Partei für die Freiheit (PVV), am 08.03.2017 in Breda bei einem Wahlkampfauftritt. Nach aktuellen Umfragen kommt seine Partei auf 16 Prozent.
© dpa

Die Niederlande im Wandel: Wohin sind Nüchternheit, Optimismus und Toleranz?

Am Mittwoch wird in den Niederlanden gewählt. Die Rechten könnten triumphieren – weil das Land durch den Neoliberalismus seit den 90ern nicht mehr wiederzuerkennen ist.

Vor gut 20 Jahren gab es einen Riesenhit in den Niederlanden. „15 Miljoen Mensen“ (15 Millionen Menschen) hieß er, gesungen von Jochem Fluitsma und Eric van Tijn, einem Produzentenduo, das mit Popbands wie Caught in the Act und Status Quo gearbeitet hat. Als zwölfjähriges Mädchen, das im Westen Hollands aufwuchs, fand ich das Lied toll. Bei Schulfeiern haben wir es alle mitgebrüllt.

Noch immer kenne ich den Text auswendig. Bei einem deutsch-niederländischen Journalistenaustausch haben wir gemeinsam Lieder gesungen, erst ein deutsches, danach ein niederländisches. So kam es, dass die Deutschen sich nicht nur den Text von „15 Miljoen Mensen“ merken, sondern auch zuschauen mussten, wie wir den alten Schlager zum Besten gaben. Den Text kannte ich immer noch auswendig, die Freude von damals stellte sich nicht ein. Denn das Land, das da besungen wird, gibt es nicht mehr.

Nur beim Fußball emotional

Die erste Strophe beginnt so: „Ein Land mit tausend Meinungen, ein Land von Nüchternheit, alle zusammen am Strand und Zwieback zum Frühstück“. Wie komisch das auf Deutsch und vor allem ohne Reim auch klingen mag – für mich sind das bekannte Sachen. Bei meinen Eltern zu Hause gab es tatsächlich Zwieback zum Frühstück. Und da ich nicht weit vom Meer aufgewachsen bin, sind wir im Sommer oft schon früh am Morgen zum Strand geradelt, um noch ein Plätzchen zu bekommen. Erst abends sind wir zurückgefahren, rot wie Krebse und ohne uns allzu viele Gedanken zu machen über mögliche Gesundheitsschäden.

Weil wir eben „nüchtern'“ waren . Wir würden nie so emotional an das Leben herangehen wie die Franzosen oder Italiener. Abgesehen vom Fußball: Da rennen wir herum wie die Irren, ohne dass uns das peinlich wäre. Damit geht die Strophe auch weiter: „Das Land, in dem niemand sich mal gehen lässt, außer wenn wir gewinnen. Dann bricht spontan eine Leidenschaft los, dann bleibt kein Mensch noch drinnen“. 1988 waren wir auch mal Europameister, mit Fußballspielern wie van Basten, Bergkamp und Koeman Weltspitze. Weitere Triumphe schienen nur eine Frage der Zeit zu sein. Eine Illusion – aber das wussten wir ja damals nicht!

Selbstentfaltung und Integration mit Bewahrung eigener Identität

Es waren die neunziger Jahre. Die Berliner Mauer war weg, der Kalte Krieg vorüber. Nach dem Maastrichter Abkommen wuchs Europa weiter, die Grenzen verschwanden. Für die Niederlande als Transitland war es ein goldenes Jahrzehnt, das Absatzgebiet hatte sich vergrößert. Es war die Zeit des Neoliberalismus. Die ersten Privatisierungsprozesse wurden vom Staat angestoßen: die Post war 1994, die Bahn 1995 dran. Danach folgten die Energielieferanten und das Gesundheitswesen. Immer mehr Industrie verschwand ins Ausland, immer mehr verwandelte die niederländische Gesellschaft sich in eine Wissensökonomie.

In der Kleidung spiegelte sich der Optimismus, der graue Schimmer der Achtziger wurde abgelöst von bunten Farben. In meiner Sommerjacke sah ich aus wie ein Chamäleon auf Drogen. Auch die waren erlaubt.

Auf unsere eigene Art und Weise waren wir ja alle gleich. Und gleichzeitig galt die Parole Selbstentfaltung. Genau das erfasst der Refrain: „15 Millionen Menschen, auf dem ganz kleinen Teil der Erde, denen macht man keine Vorschriften, deren Würde verletzt man nicht“. Auch nicht die Würde der Einwanderer, die sich in den vorangegangenen Jahrzehnten in den Niederlanden niedergelassen hatten. „Integration mit Bewahrung der eigenen Identität“, so hieß es damals noch in der Politik.

Widerspruch zwischen Selbstbild und Wirklichkeit

Als der Rechtsliberale und spätere Europa-Kommissar Frits Bolkestein Anfang der Neunziger dieses Laissez faire kritisierte, wurde darauf heftig reagiert. Die Idee, dass es für Neueinwanderer Pflicht sein sollte, Niederländisch zu lernen, wurde damals nur vorsichtig geäußert. Die Zeile des Lieds „Das Land abhold von Bevormundung, und keine Uniform ist heilig“ illustriert die Situation: Niemand sagt uns, was wir tun sollen. Chefs, Polizei, Lehrer, alle haben wir geduzt.

Natürlich war dabei Naivität im Spiel, wie bei einem Siebtklässler. Natürlich gab es damals schon Probleme in den kaputten Gegenden der Großstädte, es gab auch schon Gewalt gegen Ausländer. Natürlich hat es damals schon Leute gegeben, die nicht vom Wirtschaftsaufschwung profitiert haben, auch damals schon verloren Fabrikarbeiter ihre Jobs. Doch das wurde nicht gesehen. Das Bild, das weiterhin existieren musste, war jenes, das aus dem Lied hervortrat – Holland als das Land der unbegrenzten Toleranz. Das ist der Widerspruch zwischen Bild und Wirklichkeit, den die nationalpopulistische Strömung eines Geert Wilders jetzt verschärft.

Das neue Zauberwort ist Flexibilität

Heute zählen die Niederlande 17 Millionen Einwohner. Damit sind sie eines der am dichtesten bevölkerten Länder Europas. Das führt zu Spannungen. Für Durchschnittsverdiener ist eine Wohnung in Amsterdam kaum bezahlbar. Mietwohnungen sind knapp, die Warteliste ist lang. Die Zunahme der Asylbewerber hat das Gefühl, dass man selbst nicht an die Reihe kommt, bei vielen Menschen verstärkt. Das neue Zauberwort ist Flexibilität. Die Konkurrenz hat das Leben aber nicht billiger gemacht, sondern unsicherer. In der letzten Strophe sangen Fluitsma und Von Tijn: „Das Land, das sich um alle kümmert, kein Hund, der noch die Gosse kennt. Kroketten gibt es im Automat, niemand, der noch trockenes Brot isst.“

Diese Zeilen tun jetzt weh. Dass wir das Land je so besungen haben, ist heute nicht mehr vorstellbar. Der Staat hat eben nicht für alle Bürger, sondern nur für einige gut vorgesorgt. Es ist eine Tendenz, die in der ganzen westlichen Welt erkennbar ist. Wenn sogar die Niederländer ihr Land nicht mehr erkennen, wie soll es dann den Deutschen ergehen?

Von Lizzy van Winsen

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