Eurovision Song Contest: Wo Europa noch stimmt
In Tel Aviv hat der ESC begonnen. Und es ist gut, dass dabei alle ein bisschen gaga sind.
Ich war zehn, als ich zum ersten Mal verstand, was Europa wirklich bedeutet. Dass dieses Wort mehr ist als nur der Name einer Landmasse oder dieser Frau auf dem Stier, von der Gustav Schwab erzählte. Ich kapierte damals, dass Europa ein Projekt ist.
Wie genau das europäische Parlament funktionierte oder was die europäische Kommission war, wusste ich damals nicht. Ich hatte keine Ahnung, was ein gemeinsamer Wirtschaftsraum ist oder wie genau dieses Schengen funktioniert, das drei Jahre zuvor eingeführt worden war.
Es war mir auch egal. 1998 lag für mich das Zentrum Europas nicht in Brüssel oder Straßburg, sondern in der Innenstadt von Birmingham. Und der größte Europäer aller Zeiten in diesem Jahr war für mich nicht irgendeine historische Persönlichkeit, kein Feldherr oder Politiker, sondern ein Mann in Rüschenhemd und Samtsakko: Ein Mann, der die langen Haare um den kreisrunden Haarausfall trug wie eine Krone. Mein europäischer Held war Guildo Horn, der beim ESC-Finale von Nussecken und Himbeereis sang.
Nüchtern betrachtet ist der ESC ganz schön gaga
Mir ist klar: Als europäisches Erweckungserlebnis ist „Piep Piep Piep“ nicht gerade für eine politische Karriere im Europaparlament geeignet. Der Contest hat den Ruf einer Veranstaltung, die man nicht ernst nehmen kann. Eurovision, unken die, die sich beim Lachen einen Muskel zerren, ist dadaistischer Ausdruck transnationaler Besinnungslosigkeit. Und sie haben ja Recht.
Man muss nur ein paar der Dinge, die beim ESC passiert sind, nüchtern untereinander schreiben, um zu sehen wie gaga das alles ist: Da spielt ein Spanier auf einer Vibrator-Gitarre. Ein finnischer Metalmusiker mit Latexmaske und Fledermausflügeln gewinnt den Wettbewerb mit einem Song in dem er von „Rock’n’Roll-Engeln“ singt, die ein „Hard-Rock-Halleluja“ anstimmen. Ein deutscher Sänger tritt als Dschingis-Khan auf und dröhnt
„Lasst noch Wodka holen, oh ho ho ho“. Sechs russische Omas in traditionellen Gewändern singen übers Plätzchenbacken und nennen den Song „Party for Everybody“. Alles so passiert.
Waren überhaupt mal bleibende Hits dabei?
Und auch, wenn das nur eine Auswahl der verrücktesten Momente ist – erinnert sich irgendjemand an die anderen, die ernstgemeinten Songs? Waren die richtig gut? Waren irgendwelche bleibenden Hits dabei? Gewinner und Songs aus dem eigenen Land zählen nicht. Na eben.
Gerade deswegen liebe ich den ESC wie sonst kaum eine andere Fernsehsendung. Und ich bin auch nicht allein. Im letzten Jahr haben im Sendegebiet 186 Millionen Menschen zugesehen – bei einer Einschaltquote von 35,8 Prozent. Bei Mett-Igeln oder Chips, mit Trinkspiel oder ohne, zu Hause im Wohnzimmer oder beim Public Viewing haben sie einen Abend lang auf wirklich jede Ernsthaftigkeit verzichtet. Bei der letzten Wahl zum EU-Parlament lag die Beteiligung europaweit übrigens bei nur 42,5 Prozent. Der Eurovision Song Contest ist nicht nur in der Vorstellung eines zehnjährigen Jungen das verbindende Element Europas. Weil die Griechen hier nicht nur pleite sind, sondern auch 18 Mal Top-Ten-platziert und die Deutschen nicht nur als Troika-Zahlmeister nach der nächsten Rate fragen, sondern einfach mal: „Wadde hadde dudde da“.
Alle machen sich zum Deppen
Und vielleicht ist es ja wirklich so. Vielleicht, steile These, basiert der Frieden, den wir in Europa seit Jahrzehnten haben, am Ende nur darauf: dass sich jedes europäische Land einmal im Jahr so richtig zum Deppen macht. Und darauf vertraut, dass die anderen sich auch nicht so ernst nehmen. Wie in einer Familie eben. Mutually assured gaga.