Mutter aller freien Räume: Wo die Freie Szene in Berlin zuhause ist
Berliner Off-Zentrale: Die Sophiensæle sind seit 20 Jahren der Flagship-Store des Freien Theaters und Tanzes.
Wer damals dabei war und heute den Torbogen in der Sophienstraße 18 passiert, um auf die rote Backsteinfassade im Hinterhof zuzulaufen, fühlt sich in eine andere Zeit versetzt. Das heutige Berlin-Mitte mit seinen Modeboutiquen und Touristenlokalen rückt in den Hintergrund, und der Tag, an dem man das Gebäude aus der Gründerzeit zum ersten Mal erkundete, ist wieder präsent. 1996 war das, die wilde Phase nach der Wiedervereinigung, als die Künstler sich neue Räume in der Stadt eroberten. Berlin war die Hauptstadt der Zwischennutzungen.
Jochen Sandig hatte ein paar Journalisten hierher gelockt, um ihnen einen vergessenen Ort zu zeigen. In dem ehemaligen Handwerkervereinshaus, das 1904 erbaut wurde, hatte zuletzt das MaximGorki-Theater seine Werkstätten untergebracht. Wir balancierten auf der Holzbalustrade im großen Festsaal und hofften, dass sie nicht zusammenkracht. Alles wirkte baufällig, ruinös, dennoch spürten wir die Magie dieses Raums. Ursprünglich waren Sasha Waltz und Jochen Sandig auf der Suche nach einem Proberaum für ihre Tanzcompany gewesen. Doch Sandig malte sich voller Begeisterung ein wagemutiges Zukunftsszenario aus: Das Gebäude, das in einer Art Dornröschenschlaf versunken war, könnte zu einem Spielort der freien Szene werden. „Der spinnt!“, dachten wir damals.
Aber wir lagen falsch, glücklicherweise. Natürlich war das Projekt abenteuerlich, denn Waltz und Sandig hatten kein Geld. Aber sie hatten den Mut zum Risiko – und die nötige Verrücktheit, um ihren Traum zu verwirklichen. 1996 gründeten sie gemeinsam mit dem Choreografen Jo Fabian und dem Regisseur Dirk Cieslak die Sophiensæle, bis heute einer der wichtigsten Produktions- und Spielorte für die freie Szene, die längst über Berlin hinaus ausstrahlen. Die Eröffnung mit „Allee der Kosmonauten“ von Sasha Waltz wurde ein Riesenerfolg und machte die Spielstätte mit einem Schlag bekannt. So manchen Stern hat man hier aufgehen sehen: Nico & the Navigators zeigten ihre ersten Berliner Produktionen mit den wunderlich-versponnenen Figuren, Constanza Macras und Dorky Park präsentierte ihr herrlich durchgeknalltes Stück „MIR – A Love Story“.
Patina und Avantgarde, das macht die Magie des Hauses
Die Sophiensæle sind beides: ein Labor des Neuen und ein geschichtlich aufgeladener Ort. In keinem anderen Theater sind die historischen Spuren so sichtbar, zugleich tanzt hier der Zeitgeist durch die Räume. Wenn die Sophiensæle nun ihr 20-jähriges Bestehen feiern, dann können sie auf eine einmalige Erfolgsgeschichte zurückblicken. Das Dauer-Provisorium wurde vor fünf Jahren behutsam saniert – eine dringend notwendige Maßnahme, um das Überleben dieses Produktionsortes zu sichern. Doch die Sophiensæle besitzen auch heute noch ihren apart maroden Charme. Die Farbe blättert von der Decke und den Wänden, doch inzwischen muss man nicht mehr damit rechnen, dass Teile der Stuckdecke zu Boden fallen. Eine neue Künstlergeneration sucht hier nach zeitgenössischen Ausdrucksformen, ihrer Ursprungsidee sind die Sophiensæle bis heute weitgehend treu geblieben. Nicht nur die historische Patina macht den Ort einmalig, sondern auch der Geist des Hauses.
Der Ruf ist besser als die Möglichkeiten
„Die Sophiensæle sind auch heute, 20 Jahre nach ihrer Gründung, immer noch ein Ort für freie Geister – Säle mit Seele. Und ein Raum mit Körper“, sagt Jochen Sandig. 2006 hatte der umtriebige Kulturmanager wieder einen neuen Ort in Berlin gegründet: das Radialsystem. Doch er ist immer noch Gesellschafter der Sophiensaele GmbH, neben Sasha Waltz und der heutigen Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard. Die Sophiensæle liegen ihm auch deshalb weiter am Herzen, weil sie Impulsgeber und Katalysator waren. „Für mich bleiben die Sophiensæle die Mutter der freien Räume in Berlin“, erklärt Sandig. „Vieles nahm hier seinen Anfang. Die halbe neue Schaubühne, Matthias Lilienthal ließ sich hier für sein HAU-Kombinat inspirieren, Amelie Deuflhard für Kampnagel und ich für das Radialsystem. Sophiensæle – The Mother of Invention.“
Mit Franziska Werner, die 2011 zur künstlerischen Leiterin ernannt wurde, hat das Haus einen neuen Aufschwung genommen. Werner pilgerte schon als Studentin der Theaterwissenschaft in die Sophiensæle, sie kennt den Spielort seit seinen Anfängen. Es ist ihr gelungen, einige Gruppen und Kollektive fest ans Haus zu binden, zugleich hat sie junge Talente entdeckt. Werner ist es wichtig, den Künstlern möglichst gute Produktionsbedingungen zu bieten: „Das ist der Geist, aus dem heraus die Sophiensæle gegründet wurden: die Struktur dient der künstlerischen Arbeit. Und das ist genau das, was wir die ganze Zeit zu leisten versuchen – und auch sehr gut leisten.“ Der Ruf der Sophiensæle ist allerdings besser als ihre Möglichkeiten. Franziska Werner kämpft seit Jahren für eine angemessene Subventionierung.
Derzeit erhalten die Sophiensæle eine vierjährige Konzeptförderung in Höhe von 1,2 Millionen Euro, die Förderung wurde auf diese Weise um 450 000 Euro aufgestockt. Doch die Gelder müssen immer neu beantragt werden. „Nach 20 Jahren brauchen die Sophiensaele unbedingt einen Haushaltstitel“, fordert Werner. „Sie sind eine der wichtigsten Ankerinstitutionen für die freie Szene in Berlin.“
Die Sophiensaele brauchen einen Produktionsetat, sagt Chefin Franziska Werner
Als Manko sieht sie es auch an, dass die Sophiensaele über keinen eigenen Produktionsetat verfügen. Die Gruppen, die hier spielen, müssen das Geld mitbringen. Das Programm bestimmen damit letztlich die Jurys, die über die Projektanträge entscheiden. Werner hielte es für klüger, wenn die Förderung auf zwei Beinen stünde. Es sei schon richtig, dass die Künstler Projektgelder beantragen, aber gleichzeitig müssten die Häusern mit einem Etat ausgestattet sein, „so dass es auch möglich ist, Künstler zu fördern, deren Anträge nicht bewilligt wurden“.
„Man verteilt die Risiken – und die künstlerische Expertise“, pflichtet ihr Anna Mülter bei, die seit 2015 die Tanztage Berlin leitet und auch für das sonstige Tanzprogramm verantwortlich ist. Alle Entscheidungen werden hier übrigens zu dritt getroffen: Neben Franziska Werner und Anna Mülter hat auch die Dramaturgin Christiane Kretschmer ein Wort mitzureden.
Eine künstlerische Heimat für ausgewählte Berliner Gruppen
Nostalgische Gefühle kommen bei Franziska Werner anlässlich des Jubiläums nicht auf. „Was die Berliner Szene ausmacht, ist, dass sie sich immer wieder neue Freiräume erkämpft“, betont sie. Das sei in den wilden Neunzigern so gewesen und heute nicht anders. Spielräume zu produzieren, ist heute allerdings ungleich schwieriger geworden. Das macht die besondere Bedeutung der Sophiensaele aus.
Mittlerweile gibt es andere Akteure wie das HAU oder das Ballhaus Ost, aber das Haus in der Sophienstraße ist immer noch ein Ort für Innovation, Experiment und Diskurs, ausgewählten Berliner Gruppen bietet es eine künstlerische Heimat. Eine unverzichtbare Spielstätte für Berlin. „Es gibt mittlerweile ein neues Bewusstsein dafür, wie wichtig es ist, dass es nicht nur Flagship-Stores und Nobel-Galerien gibt“, sagt Werner. Sondern auch Kunst- und Kulturorte abseits der Hochglanzfassaden und des großen Geldes.
20 Jahre Sophiensæle: Der Blick geht zurück, auf aufregende, abgedrehte, lustige, auch auf trockene, dröge Abende. Hier, an diesem Haus mit dem eigenwilligen Doppelvokal im Namen, galt es, eigenwillige junge Performer zu entdecken, die das Publikum begeisterten – mit ihrer Unbedingtheit, ihrem Elan, ihrer Fantasie. Wer immer den Festsaal betritt, spürt die Magie des Raumes, noch heute.
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