Berliner Ufer (9): Wo die Frachter schnaufen und die Fische beißen
Der Teltowkanal verbindet seit 110 Jahren den Griebnitzsee und den Langen See. Eine spannende Strecke.
Annegret aus Minden klingt irgendwie asthmatisch. Man hört sie schon von Weitem schnaufen. Björns Silhouette dagegen taucht ganz plötzlich durch das Ufergestrüpp des Teltowkanals auf, und schon sind die beiden aneinander vorbei. Björn, der Mineralöltanker fährt raus aus Berlin, Annegret kommt, bringt Kies in die Stadt.
Der Teltowkanal, gut 38 Kilometer lang, verbindet seit 110 Jahren den Griebnitzsee im Südwesten Berlins mit dem Langen See in Treptow-Köpenick. Zwei kleine Flüsschen wurden damals unter ihm begraben, die Bäke in Lichterfelde und die Lanke, die immerhin einmal Lankwitz den Namen gab. Als der Kanal am 2. Juni 1906 eröffnet wurde, fuhr Kaiser Wilhelm II. vorneweg, an Bord seiner Jacht Alexandra.
Geplant war der Kanal als Abkürzung. Um 16 Kilometer schrumpfte der Weg von der Elbe zur Oder, vorbei an der schon damals verstopften Innenstadt. Im Süden aber war Platz, auch für moderne Industrien an seinem Ufer, zum Nutzen der boomenden Metropole. Es kam schon sehr bald anders.
Im April 1945 wurde der Kanal für ein paar Tage Front. Am Tempelhofer Hafen etwa verschanzten sich Rotarmisten im Ullsteinhaus, SS lag im Hafenspeicher gegenüber, bis die Rote Armee auch die letzte Hürde auf diesem Weg in die Innenstadt nahm. Nach dem Krieg schnitt der Eiserne Vorhang den Kanal vor Zehlendorf und hinter Britz ab, in Zehlendorf wurde er zur stark befestigten Grenze zwischen West-Berlin und der DDR. Spiel nicht am Ufer, sagte man mir dort als Kind, wenn du reinfällst, darf dich keiner retten. Mein großer Bruder hat trotzdem dort geangelt.
Heute ist der Hafen Tempelhof kein Hafen mehr, sondern eine Shopping Mall mit Bootsstegen. Die Kräne sind museale Kulisse, ein paar Jachten liegen in der Marina, eine trägt den Heimathafen Xanten als Schriftzug am Heck. Die alten Molenköpfe gehören inzwischen zu einer Cocktailbar, ein Shuttle bringt die Gäste übers Wasser von einem Tresen zum anderen.
Der Hafenmeister hat sein Büro in der Heckkajüte der Alten Liebe, einem ausgedienten Binnenfrachter. Beim Eintreten durch die Stahltür muss man sich bücken. Wie wird man eigentlich Hafenmeister? Der Mann hinter dem Schreibtisch zuckt mit den Schultern. Er ist gelernter Binnenschiffer, wäre aber nicht nötig gewesen. Doch obwohl erst 28 Jahre alt, hat er das richtige Patent, um sofort die Leinen loswerfen zu dürfen. Kriegt er da nicht manchmal Fernweh? Im Hintergrund zieht derweil das Tankschiff Frank Burmeister vorbei, und man rechnet damit, dass jeden Moment eine Möwe kreischt. Nein, sagt er, und ist froh darüber, hier vor Anker gegangen und zum Feierabend immer noch am selben Ort zu sein.
Backsteinexpressionismus
Für Franz Hessel, den großen Flaneur, war diese Gegend ein Highlight inmitten lauter Unzulänglichkeiten. „Das heutige Tempelhof“, schreibt er 1929, „ist einer der schrecklichen Eilbauten aus der Zeit nach 1870 im Bauunternehmer- und Maurermeistergeschmack, wie deren noch allzuviel rings um Berlin lagern.“ Hessel verabscheute Stuckfassaden und pries die Monumente der neuen Zeit, zuallererst: „Das Ullsteinhaus mit seinem stolzen sechzehn Stockwerk hohen Turm.“
Turm und Haus stehen immer noch wie ein Ziegelsteingebirge am Ufer, äußerlich scheinbar unversehrt haben sie das Gefecht vor 70 Jahren überstanden. Hinter der Klinkerfassade verbirgt sich einer der ersten Stahlbeton-Skelettbauten Berlins. Die Architekturkritik hat einen treffenden Ausdruck für das Ensemble gefunden: Backsteinexpressionismus. Der aufragende Bau mit seinem vorspringenden Zierrat am Gesims sieht aus wie Batmans Burg. Jedenfalls hat Berlin nirgendwo sonst so viel Ähnlichkeit mit Gotham City.
Auch der Tagesspiegel stand im Ullsteinhaus
Als Hessel das Ullsteinhaus sah, war es das brandneue, größte Druckhaus Europas. Vicki Baums „Menschen im Hotel“, Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“, die „Vossische Zeitung“, alle wurden hier gedruckt. Bis die Ullsteinfamilie von den Nationalsozialisten enteignet wurde und das Haus zum Deutschen Verlag mutierte. Der produzierte Blätter wie die NS-Vorzeigeillustrierte „Signal“.
Das Ullsteinhaus wurde in den Nachkriegsjahren das Rückgrat der West-Berliner Presse. Auch der Tagesspiegel entstand dort, bis 1954 Druckerei und Redaktion in die Potsdamer Straße nach Tiergarten umzogen. Heute wird im Haus vor allem Mode verkauft, nicht an den Kunden, sondern an die Einkäufer des Handels. Normale Sterbliche haben keinen Zutritt, auch wenn die Ladenzeile im Innern aussieht wie ein Outlet-Center.
Holger Wettingfeld träumt seit drei Jahren von einem Deutschen Pressemuseum an diesem historischen Ort. „Das war doch mal ein Medienzentrum hier“, sagt er, während der Wind ihm vom Kanal her die Frisur verweht. Er zeigt rüber zum Lorenzhaus, einem weiteren roten Ziegelbau am Rande des Hafens. 1916 wurde der als Stammhaus der Firma C. Lorenz errichtet. Die war erst Marktführer für Telegraphen, dann an der Entwicklung des Volksempfängers beteiligt. Und nur wenige Meter in die andere Richtung ist das Ufa-Gelände, einst Kopieranstalt der größten deutschen Filmfirma. Der alte Vorführraum ist noch erhalten, vielleicht saß Goebbels manchmal selbst hier drin, um die Wochenschau abzunehmen, bevor seine Propagandafilme zum nahen Flughafen Tempelhof gebracht wurden.
Alternativszene hält Einzug
Nach dem Krieg arbeitete hier Wolfgang Neuss an „Wir Kellerkinder“, „Django“ bekam eine deutsche Tonspur, doch in den sechziger Jahren war Schluss. Der Verfall wurde erst gestoppt, als das Areal 1978 besetzt wurde, das seitdem eines der großen Projekte der Berliner Alternativszene ist, mit Theater, Open-Air- Kino, Freier Schule, Zirkus und Biobäcker. Inzwischen sieht man viel graues Haar im Café und beim Biobäcker. Doch die Ufa-Fabrik funktioniert nach wie vor, nur das Open-Air-Kino öffnet allenfalls noch sporadisch. Schade, Tempelhof hat kein anderes Kino.
Franz Hessel wandte sich damals auf seinem Spaziergang nach Osten, besuchte das Sarottiwerk: „Es ist erstaunlich“, schrieb er danach, „wie die verstaubten, in runzligen Säcken zusammengeduckten Bohnen zu unzähligen säuberlichen Tafeln und Pralinen werden.“ Sarotti macht seine Schokolade längst anderswo, und leider führt auch kein Uferweg am Teltowkanal entlang in diese Richtung.
Nach Westen ist dagegen der Weg auch für Radfahrer gut passierbar. Und schon nach wenigen Metern verstummt die Stadt so sehr, dass man schon überrascht aufschaut, wenn ein Schiff wie die Annegret heranschnauft. Alte Hafenanlagen, sehen so aus, als wären sie vielleicht inzwischen vergessen worden. Und dann liegt plötzlich wieder am linken Ufer ein gewaltiges Tanklager, dies hier ist eben doch das Einzugsgebiet einer Großstadt, der Kanal heute wieder Bundeswasserstraße, auch wenn der Schiffsverkehr nicht besonders rege ist.
Die Tour wird zur Reise
An der Sieversbrücke ist plötzlich Schluss. Rechts gibt es keinen Weg ans Ufer, eine neue Einfamilienhaussiedlung versperrt den Weg. Hessel würde den Stil der Villen wahrscheinlich „Bauunternehmer- und Maurermeistergeschmack“ nennen. Wie groß Einfamilienhäuser auf so kleinen Grundstücken sein können. Ein Indiz mehr für den Verwertungsdruck, der mittlerweile auf Berliner Boden lastet. Aber musste dafür der Uferweg unpassierbar werden? Zurück ans Wasser kommt man links die Kaiser-Wilhelm- Straße hinunter und dann auf dem Edenkobener Weg bis zur Brücke.
Er lohnt sich, spätestens in Steglitz, wenn man hinter dem Klinikum Benjamin Franklin den Lichterfelder Schlosspark erreicht, wird die Tour zur Reise nach ganz weit draußen. Und ist man am Heizkraftwerk Lichterfelde vorbei, könnte der Kanal schon mal als Fluss durchgehen, mit seinen verschilften Ufern und dem keineswegs nur schnurgeraden Wasserlauf.
Der Uferstreifen wird immer wilder, das Dickicht dichter, kleine Holzhütten dämmern im Gebüsch. Auf der gegenüberliegenden Teltower Seite ist auf dem einstigen Mauerstreifen ein veritabler Wald entstanden. Weiden lassen ihre Äste übers Wasser hängen. Früher patrouillierten dort DDR- Grenzsoldaten und sorgten dafür, dass ihr Schussfeld frei blieb. Von einer Brücke blieben bis heute nur noch die Sockel an beiden Ufern übrig. Der kleine Stichkanal, der rechts abzweigt, wuchert langsam zu. Hier bogen einst Schiffe ab, um inzwischen längst geschlossene Fabriken anzulaufen. Ich erinnere mich an die Spinnstofffabrik, die Chemiefasern herstellte. Wenn der Wind ungünstig stand, roch es noch in Kilometern nach faulen Eiern.
Am Ufer wirft ein Angler die Rute aus. Ungefähr da, wo früher mein Bruder stand. Seine Fische wollte damals keiner essen. In den Sechzigern galt der Kanal als das verseuchteste Gewässer weit und breit. In den neunziger Jahren war es nicht besser. Ob es immer noch so ist, sieht man dem Wasser nicht an. Ja, auch die schönste Idylle kann trügerisch sein.