70. Berlinale: Wo bleiben die tollen Wettbewerbsfilme?
Ein laues Bären-Rennen – und ein überragender Film in der Reihe Encounters, „Shirley“ mit Elisabeth Moss: Zwischenbilanz der 70. Berlinale.
Wer hat Angst vor Shirley Jackson? Ein junges Paar zieht ins Haus eines Professors und seiner Gattin, ein dem Ehekrieg und dem Alkohol verfallenen Paar. Die Konstellation erinnert an das Quartett in der Leinwandadaption von Edward Albees Bühnenklassiker, wir schreiben die frühen sechziger Jahre. Aber so wie „Shirley“ die Perspektive auf die Frauen dreht, auf Elisabeth Moss als Horror-Schriftstellerin Shirley Jackson und auf Odessa Young als adrette, zunehmend irrlichternde schwangere Rosie, so wie die subtilen Obsessionen der Frauen und die manifesten Demütigungen durch ihre Alpha-Männer (Michael Stuhlbarg als Literaturprof, Logan Lerman als Assessor) ins Bild gesetzt werden, wie die Kamera gefährliche Nähe riskiert, wie Realebene und Horrorfiktion miteinander verblendet werden, das hat man im Kino lange nicht gesehen.
Flackernde Blickwechsel. Mörderische Ironie. Menschen, die sich quälen und voneinander nicht lassen, sprunghafte, spukhafte Szenenwechsel – Josephine Deckers Seelenthriller legt eine überbordende Sinnlichkeit an den Tag, die ebenso ins Wahnhafte ausfranst wie in hellsichtige oder tastend zarte Momente.
Die 38-jährige US-Regisseurin hat längst einen Namen in der Independentszene, in Filmen wie „Butter on the Latch“ und „Madeline’s Madeline“ hat sie die Abgründe der Psyche schon öfter beleuchtet. Diesmal stehen ihr mit Drehbuchautorin Sarah Gubbins und Kameramann Sturla Brandth Grøvlen kongeniale Verbündete zur Seite. Zu den ausführenden Produzenten zählt Martin Scorsese.
Schon das efeubewachsene, mit Büchern und verschlissenem Leben vollgestopfte Haus in Vermont unweit des Campus erweist sich als fantastischer Ort. Ein Ort, an dem das Begehren wuchert, vor allem das weibliche, verborgene Sehnsüchte, Albträume, Chimären. Hier sitzt Shirley Jackson (1916–1965) an ihrem Roman über eine verschollene Studentin: eine mit sich ringende, in ihrem Scharfsinn und ihrer Unberechenbarkeit monströse Schriftstellerin. Die Geheimnisse der anderen durchschaut sie wie auf Röntgenbildern.
Elisabeth Moss als "Shirley", sie sprengt die Grenzen der Schauspielkunst
Und man möchte nicht aufhören, Elisabeth Moss’ virtuose Entgrenzung der Schauspielkunst zu feiern, ihre überragende Darstellung einer Frau, die um die eigene Wahrheit ringt, die Wahrheit zwischen Männern und Frauen (lange vor dem MeToo-Zeitalter!), die Wahrhaftigkeit ihres Romans. Und das alles hinter einem hässlichen Brillengestell. Wie armselig nimmt sich da der Literaturfilm „My Salinger Year“ aus, der zur Eröffnung lief.
Und man würde sich gerne freuen: Endlich hat diese 70. Berlinale ihre Meisterin gefunden, endlich eine Kandidatin für den Goldenen Bären 2020! Nur läuft „Shirley“ leider gar nicht im Wettbewerb, sondern im zweiten Wettbewerb, „Encounters“. Kosslick-Nachfolger Carlo Chatrian hat ihn installiert, um das Festivalprofil zu schärfen. Eine Reform, die nicht greift – so viel lässt sich schon jetzt über Chatrians erstes Berlinale-Jahr sagen.
Im Wettbewerb versammelt er die konventionelleren Filmerzählungen, bisher jedenfalls. Mit zwei Tiefpunkten – der wie ein TV-Movie anmutenden Schweizer Produktion „Schwesterlein“ (siehe Seite 20) und dem gefälligen französischen Melodram „Le sel des larmes“ – und mit zwei Höhepunkten, Kelly Reichardts „First Cow“ und Christian Petzolds „Undine“. Aber an die Intensität von „Shirley“ reichen sie nicht heran.
"Encounters" versammelt gute Filme, aber "Shirley" sprengt auch diesen Rahmen
Gleichzeitig sprengt Deckers Film auch den Rahmen der 15-teiligen Reihe „Encounters“. Eine gute Reihe. Mit Cristi Puius Fin-de-Siècle-Tableau „Malmkrog“, mit dem kolumbianischen, apokalyptischen Nachtstück „Los Conductos“, mit Victor Kossakovskys in Schönheit und Schrecken umschlagende Tiertragödie „Gunda“ oder Melanie Waeldes schmerzhafter Coming-of-Age-Studie „Nackte Tiere“ versammelt die Sektion Geschichten jenseits der klassischen Narration. Aber mit kraftvollen, individuellen Bildsprachen, entwickelt aus dem jeweiligen Sujet.
Auch der polnische Animationsfilm „Kill it and leave this Town“ zählt dazu: Marius Wilczynski hat die intime, von Traumfetzen und surrealen Momenten durchsetzte Erinnerung an seine Heimatstadt Lodz in elfjähriger Arbeit gezeichnet. Aber auch hier passt Deckers Film nicht hinein. Es handelt sich um vergleichsweise spezielle Arthouse-Werke, um beachtliche Anfänge, um persönliche, kleinere Stücke.
Gerade wegen seiner Qualität schwächt „Encounters“ den Wettbewerb, ja das gesamte Festival. Zu wenige Handschriften, zu wenig Bildkraft bei den Bären-Kandidaten: Warum traut Chatrian sich nicht, Josephine Decker oder auch „Gunda“ auf der großen Leinwand des Berlinale Palasts zu zeigen? Warum zeigt er nicht genau hier seine Favoriten? Gleichzeitig fehlen dem Forum als Arthouse-Plattform nun Autorenfilmer wie Puiu und Waelde. Und die Bilder gleichen sich: „Anne at 13,000 Ft“ (Forum) erzählt mit ähnlich unruhig-nervösen Handkamerabildern wie „Nackte Tiere“ (Encounters) von der Schwierigkeit, erwachsen zu werden.
„Shirley“, so ließe sich einwenden, lief doch schon auf dem Sundance Filmfestival im Januar, ist also keine Weltpremiere. Aber auch die Wettbewerbsfilme ihrer US-Regiekolleginnen Kelly Reichardt und Eliza Hitman waren vorher zu sehen, Reichardts Anti-Western "First Cow" sogar schon im Frühherbst in Telluride. Warum also nicht Josephine Decker im Berliner Wettbewerb? Reichardt setzt ihre Auseinandersetzung mit dem Westerngenre fort, der Film ragt nicht aus ihrem Œuvre heraus. Decker hingegen macht einen Riesensprung. Für Deutschland hatte das Forum sie entdeckt, hier wurden ihre letzten Produktionen gezeigt. Wie schön wäre es für beide gewesen, die Regisseurin wie die Berlinale, hätte die gemeinsame Geschichte nun im Wettbewerb ihre Fortsetzung gefunden.
„Vielleicht ist sie verschwunden, um bemerkt zu werden“, sagt Rosie über Shirleys Romanfigur – sie recherchiert für die Schriftstellerin über die mysteriös verschollene Studentin. Josephine Decker hat es nicht verdient, nur in der zweiten Reihe bemerkt zu werden.
"Shirley" läuft wieder am 25.2., 20.30 Uhr (Cubix 6), 26.2., 18 Uhr (HdBF), 1.3. 14 Uhr (Cubix 6)
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