Digitales Archiv gegen Kunstraub: Wissen ist stärker als die Zerstörungswut des IS
Mit einem digitalen Archiv wollen Archäologen aus Berlin und Syrien Kunstschätze vor dem Bildersturm des "Islamischen Staats" retten. Ein Wettrennen mit der Zeit hat begonnen.
Der Osten Syriens ist das neue Hauptschlachtfeld für die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates (IS). Nachdem sie in der vergangenen Woche Tadmur mit der Weltkulturerbestätte Palmyra erobert haben, gerät nun die Provinzhauptstadt Deir az-Zor in das Visier der Terroristen. Glaubt man der Website der arabischen Zeitung „Al-Arabya al Jadeed“, hat die syrische Regierung mit dem Abzug von schweren Waffen und Munition sowie Kunstwerken aus dem Museum von Deir az-Zor begonnen.
Doch nach dem Fall von Palmyra sind den Regierungstruppen mit Ausnahme einiger Pisten die Wege nach Westen versperrt. „Wir haben das Museum in Deir az-Zor und andere Museen in Syrien seit beinahe zweieinhalb Jahren geleert“, sagt Maamoun Abdulkarim, Generaldirektor der Syrischen Antikenverwaltung DGAM, dem Tagesspiegel. „Diese Arbeit wurde von unserer Direktion als Präventivmaßnahme gegen Plünderung und Zerstörung unternommen, um nicht das zu wiederholen, was 2003 im Museum von Bagdad geschehen ist. Ich versichere Ihnen, dass die Mehrheit der Sammlungen der Museen an sicheren Orten ist.“
Kann man die Zerstörung von Kunstschätzen durch den IS stoppen?
Besorgt über die Situation in Deir az-Zor zeigt sich Hartmut Kühne von der Freien Universität Berlin, der von 1978 bis 2013 das Grabungsprojekt Tell Schech Hamad am Chabur geleitet und am Aufbau des Museums von Deir az-Zor mitgewirkt hat. In dem Haus, das bei seiner Eröffnung 1996 als vorbildliches Beispiel deutsch-syrischer Zusammenarbeit galt, wurden viele Funde aus dieser Grabung ausgestellt. Zu den Höhepunkten der Präsentation gehörten Rekonstruktionen bedeutender Bauwerke wie ein Raum eines Steinzeithauses von Bouqras, das Stadttor von Tell Bedri aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. oder der Thronsaal das Palastes von Mari aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. Die nachgestellte Architektur verschaffte den Objekten eine Aura.
Die Vorstellung, dass dem IS solche Kunstschätze in die Hände fallen könnten, ist ein Alptraum für jeden Museumsmann und jeden Archäologen. Die selbst ernannten Kämpfer für Allah zerstören ihnen verhasste „heidnische“ Kultgegenstände gerne vor einer Kamera – oder verkaufen sie klammheimlich ins Ausland. Kann man sie stoppen? Hartmut Kühne, der Professor für Vorderasiatische Archäologie in Berlin, glaubt: ja. „Nach einigem Grübeln hatte ich die Idee, unsere Kartei, die wir angelegt hatten, um das Museum von Deir az-Zor auszustatten, als Grundlage für eine illustrierte Datenbank der Museumsobjekte von Deir az-Zor zu nutzen.“
In Berlin wird das Inventar des Museums digitalisiert
Kühne beantragte Mittel beim Auswärtigen Amt im Rahmen eines Programms für Kulturgüterschutz. Mit diesem bewilligten Projekt trat er der NGO Shirin bei (Syrian Heritage in Danger: an International Research Initiative Network). Sie war im vergangenen Jahr in Basel auf Initiative des belgischen Archäologen Marc Lebeau gegründet worden. Dann präsentierte Kühne sein Projekt mit Shirin im Februar bei einer Unesco-Tagung in Beirut. Jetzt sitzt der Archäologe mit zwei Mitarbeitern im Universitätsarchiv der Freien Universität Berlin, wo das Material der Grabung von Tell Schech Hamad eingelagert ist, um das Inventar des Museums zu digitalisieren. Partner auf syrischer Seite ist die syrische Antikenverwaltung DGAM.
Die Kartei ist das Ergebnis eines vermeintlichen Mangels. Sie war ab 1992 auf Initiative des damaligen Museumsdirektors Assad Mahmoud von Hartmut Kühne angelegt werden. Alle potenziellen Ausstellungsstücke sollten mit Fotos dokumentiert werden, um festzustellen, ob überhaupt genügend Objekte aus allen Epochen vorhanden waren, um eine Dauerausstellung über den Zeitraum 10 000 vor Christus bis in die Gegenwart zu bestücken. Wo Objekte fehlten, behalf man sich mit Kopien aus den Museen in Damaskus und Aleppo. So entstanden mehr als 5000 Karteikarten mit Fotos und Beschriftung, die jetzt einen ungeheuren Wert besitzen. „Damals hatten wir bereits über 10 000 Inventarnummern. Die letzte offizielle Inventarnummer des Museums, die vergeben wurde, ist 21867“, sagt Kühne. „Und unsere Kartei ist informativer als das Inventarbuch des Museums, das keine Fotos hat.“
Ein Wettrennen mit der Zeit
Hartmut Kühne hat dem Direktor der syrischen Antikenverwaltung vorgeschlagen, die Objekte aus Deir ez-Zor und letztlich aus allen Museen des Landes zu fotografieren und zu digitalisieren. „Wir kümmern uns um die ersten 10 000 Inventarnummern, die DGAM fotografiert die evakuierten Objekte, die jetzt in Sicherheit gebracht wurden, und liefert die restlichen Nummern bis 21 867.“ Es ist ein Wettrennen mit der Zeit, denn mit jedem Objekt, das digital mit Foto erfasst ist, wird ein Stück mehr Sicherheit für die Kunstwerke geschaffen.
Laut dem syrischen Antiken-Chef Maamoun Abdulkarim sind in den letzten eineinhalb Jahren über 200 000 Artefakte digitalisiert worden, nicht nur aus Deir az-Zor, sondern auch aus anderen Museen. So entsteht in Berlin und in Damaskus jeweils eine Datei. Beide werden in eine gemeinsame Datenbank eingespeist, die von der Unesco verwaltet wird. Berlin speist die Objekte auf Englisch ein, Damaskus auf Arabisch. „Bei unserer Beschriftung richten wir uns zunächst nach der Nomenklatur von Interpol. Doch wir haben schnell gemerkt, dass es notwendig ist, diese Nomenklatur im archäologischen Sinne zu präzisieren“, sagt Kühne. Zur Synchronisierung und Präzisierung einer einheitlichen Nomenklatur von Interpol, Unesco und ICOM soll im August in Berlin eine Konferenz stattfinden.
Liste der Kunstwerke soll auch den Kunsthandel sicherer machen
„Das Ziel ist eine illustrierte Liste der Kunstwerke, die dann im Internet für internationale Institutionen, Strafverfolgungsbehörden und letztendlich auch den Kunsthandel kontrolliert zugänglich sein wird. Dort könnte sich der Kunsthändler informieren, ob das ihm angebotene Objekt sauber ist oder aus einem syrischen Museum stammt“, sagt Kühne. Außerdem haben die Mitstreiter von Shirin begonnen, Einheimische an fotogrammetrischen Kameras auszubilden. Die Syrer, Kurden oder Iraker sollen historisch bedeutende Bauwerke vor einer möglichen Zerstörung dokumentieren. Die Messkameras liefern präzise Bilder, mit denen auch die räumliche Lage eines Objekts und seine dreidimensionale Form festgehalten werden.
Leider ist die Berliner Antiken-Kartei ein Glücks- und ein Ausnahmefall. „Normalerweise hat ein Ausgräber nichts mit dem Museum zu tun, in dem seine Stücke eventuell landen werden“, sagt Hartmut Kühne. „Aber ich habe mich von Anfang an um das Museum gekümmert, es lag mir immer am Herzen.“ Die bedrohten Artefakte in Syrien jetzt zu digitalisieren, ist grundsätzlich eine gute Idee. Etwas Besseres lässt sich den Bilderstürmern des Islamischen Staates derzeit wohl nicht entgegensetzen. Vielleicht ist es auch eine Möglichkeit, die Schockstarre zu überwinden, die Archäologen, Museumsleute und Kunstliebhaber erfasst hat, seit die Religionsfanatiker Palmyra eingenommen haben. Wissen – diese Hoffnung gilt – ist stärker als Waffen.
Weitere Informationen unter: www.shirin-international.org
Rolf Brockschmidt