International Chamber Music Festival in Jerusalem: Wir wollen das Meer sehen
Magische Mozart-Momente und ein Besuch auf dem Tempelberg: Das International Chamber Music Festival in Jerusalem feiert 20. Jubiläum. Ein Besuch.
Acht Notenständer sind vor Michael Barenboim aufgebaut, mit „Sequenza VIII“ für Violine solo (1976) von Luciano Berio. Ein unfassbar schweres Stück. Zwölf Minuten voller Doppel- und Trippelgriffe, vertracktem Kontrapunkt, rapiden Stimmungs- und Dynamikwechseln. Es bringt die Geige an den Rand des Möglichen, des Spielbaren, und ist zugleich Hommage an einen anderen, der Tradition und Zukunft auf ähnliche Weise zusammengebracht hat, 200 Jahre früher: Johann Sebastian Bach. Barenboim spielt das, dabei die Notenständer entlang- schreitend, mit größter innerer Ruhe, ohne die, man spürt es, gar kein musikalischer Ausdruck möglich ist. Spiegelverkehrt schimmern die Noten durchs Papier, und jederzeit sieht man, an welchem Punkt im Werk er sich gerade befindet. Ein Konzert, eine Performance.
Die Hörer im wunderbar mystisch schimmernden, alle drei Schriftreligionen architektonisch in sich vereinigenden Auditorium des YMCA in West-Jerusalem, gehen mit. ohne zu rascheln, ohne zu husten. Obwohl dies kein Mozart ist, saugen sie es auf, als sei es einer. Obwohl sie alle nicht mehr die Jüngsten sind, sind sie geistig offen, empfänglich für diese moderne Musik. „Sie hören zu, als gäbe es kein Morgen“, erklärt Elena Bashkirova, die Mutter von Michael Barenboim. „Es ist existentiell für sie, jeder Musiker spürt das.“ Vor 20 Jahren hat sie das Jerusalem International Chamber Music Festival gegründet, weil die Stadt schon damals von orthodoxer Engstirnigkeit, jüdischer wie muslimischer, geprägt war und das kulturelle Leben auszubluten drohte. Das Festival ist eine der zarten Pflanzen, die sprießen auf diesem von religiöser Rigorosität ausgedörrtem Boden. Seit einigen Jahren gibt es auch einen Ableger, „Intonations“ im Jüdischen Museum in Berlin.
Ein Programm, das an Dichte kaum zu überbieten ist
Fürs 20. Jubiläum hat Elena Bashkirova, selbst Pianistin, erneut ein Programm zusammengestellt, das an Dichte kaum zu überbieten ist. Abende von drei Stunden und mehr sind völlig normal. Wer sich drauf einlässt, bekommt eine Fülle an selten bis nie zu hörender Kammermusik geboten. Beethovens Tripelkonzert etwa, nicht für Orchester, sondern nur für die drei Soloinstrumente arrangiert – mit einem leidenschaftlichen Kyril Zlotnikov am Cello. Drei Petrarca-Sonette, von Franz Liszt vertont und von Dietrich Henschel gesungen, mit Elena Bashkirova am Klavier. Die Israel-Premiere von Sven-Ingo Kochs „Nichumai Amichai“ für Klarinette, Geige, Bratsche und Cello, 2017 in Berlin uraufgeführt. Alfred Schnittkes humoristische „Moz-Art“-Sketche, von den Geigern Asi Matathias und Mohammed Hiber mit Witz und Verve interpretiert. Oder George Enescus in seiner kontrapunktischen Komplexität verstörend- grandioses Streicheroktett op. 7.
Wie schafft es Elena Bashkirova, Jahr für Jahr solche Programme zu erarbeiten – die natürlich immer auch Klassiker des Repertoires bieten, Schuberts Forellenquintett oder Mendelssohn Bartholdys Streichoktett op. 20? Als erfolgreiche Konzertpianistin hat sie natürlich eine große Bibliothek zu Hause. „Aber die Vorschläge und Anregungen der Musiker spielen eine zentrale Rolle“, sagt sie. Daraus kreiert sie Programme mit möglichst viel inneren Bezügen, am Eröffnungsabend etwa verweisen alle Werke auf die Stadt Jerusalem. Die Herausforderung: Langjährige Bekannte und neue, junge Künstler gleichermaßen ans Festival zu binden. Man glaubt es ihr, dass die Proben großen Spaß machen, kennt sie doch viele Beteiligte seit Jahrzehnten. Zum 20. Jubiläum hat Bashkirova wieder viele bekannte Gesichter nach Jerusalem geholt: Kolja Blacher, Yefim Bronfman, Emmanuel Pahud, Renaud Capuçon. Alle treten ohne Gage auf.
Bashkirova versucht, das Publikum zu verjüngen
Die meisten Besucher scheinen einander zu kennen, laut wird über mehrere Reihen hin und her gerufen. Sobald sie sitzen, sind es andere Menschen. Voll dabei. Absolute Stille zwischen den Sätzen. „Unsere Besucher sind Kulturträger“, sagt Elena Bashkirova. Und bedauert, dass diejenigen, die vor 20 Jahren 60 waren, inzwischen gestorben sind. Es kommen weniger nach. Bashkirova hat versucht, das Publikum zu verjüngen, aber es ist schwer. In Berlin fällt es ihr leichter. Da sitzen auch viele unter 30 und 40 im Publikum. Bashkirova, die selbst in Zehlendorf lebt, weiß warum: „In Deutschland ist Kultur erwünscht. In Konzerten sitzen ranghohe Politiker. Das schafft ein Umfeld der Normalität. Klassische Musik ist in Deutschland eine Selbstverständlichkeit. Und das lockt auch jüngere Leute.“ In Israel kann davon keine Rede sein. Bashkirova ist froh, dass ihr Festival von jeder staatlichen Förderung unabhängig ist. Welchen Stellenwert Kultur in Israels Politik hat, zeigt sich schon daran, dass mit Miri Regev vom Likud eine Ex-Brigadegeneralin Ministerin für Kultur ist – und zugleich für Sport zuständig.
Gerade in Jerusalem seien die Spannungen, meint Elena Bashkirova, in den letzten 20 Jahren schlimmer geworden. Wer jung ist und nicht religiös, will hier nicht leben. Dass die Situation meist im Sommer eskaliert, kurz vor dem Festival, nimmt sie seufzend hin. Dieses Jahr waren bekanntlich die Metalldetektoren die Auslöser von Protesten. Gehen wir also auf den Tempelberg.
Unterschwellige Spannungen sind immer da
Erste Erkenntnis: Es ist alles wie immer. Nicht-Muslime dürfen nur das Marokko-Tor benutzen, und nur bis 11 Uhr. Ruhig, wie betäubt liegt das riesige, zur Zeit von Herodes dem Großen errichtete Plateau in der Vormittagssonne. Der Himmel, beinahe kitschig blau, ist im Osten von der Judäischen Wüste strahlend weiß gefärbt. Die israelischen Polizisten, die den Zugang kontrollieren (nicht jedoch das Areal selbst), unterhalten sich und lachen, als seien nicht im Juli zwei der ihren hier ermordet worden.
Zweite Erkenntnis: Es ist eine prekäre Ruhe. Die Spannungen sind immer da, unterschwellig, nicht gleich sichtbar. Die Altstadt zu durchqueren ist leicht, solange man dort bleibt, wo Handel getrieben wird. Fremde sind gut fürs Geschäft, das war schon immer so. Sobald man aber eine der vielen Abzweigungen, Gassen, Treppenaufgänge, Höfe näher erkunden will, schlägt die Stimmung um. In Jerusalem ist das eine Frage weniger Meter, weniger Blicke. Ein bisschen Arabisch gelernt zu haben, wäre gut. Englisch ist für Araber die Sprache der Kolonisatoren, der britischen Verräter, der Touristen. Wer Englisch spricht, kann zusehen, wie sein Ansehen ins Bodenlose sinkt. Ein Junge ruft: „Are you Muslim? This street is closed!“ Er löst sich aus der Gruppe, rennt los. Einfach weitergehen. Natürlich ist die Straße nicht geschlossen.
Daniel Barenboim tritt nicht mehr in Israel auf
Als wieder die ersten Händler des christlichen Viertels auftauchen, stellt sich Erleichterung ein. Aber auch sie ist trügerisch. „In der Westbank wachsen Tausende von Jugendlichen heran, die noch nie das Meer gesehen haben“, erzählt ein Freund. „Und im Gazastreifen tausende von Jugendlichen, die nichts anderes als das Meer sehen.“ Eine Situation, die Israel früher oder später um die Ohren fliegen wird. Elena Bashkirova erzählt: „Ich habe neulich die Jerusalem-Biografie von Simon Sebag Montefiore gelesen.“ Da sei ihr klar geworden, dass auch die gegenwärtigen Spannungen nur Teil eines jahrtausendealten Zyklus’ aus Gewalt und Leidenschaft sind. Ein kleiner Trost.
Bei den Musikern, die sie einlädt, achtet sie nicht auf religiösen Hintergrund. Musikalische Qualität ist das Einzige, was zählt. Martha Argerich war der Star dieses Jahres, beteiligt an drei Konzerten an drei Abenden, mit Stücken von Schumann, Debussy, Ravel und, wie bei diesem Festival üblich, in ständig wechselnden Besetzungen. Wenn man Argerich sieht, mit Tochter Annie Dutoit, einer fantastischen Rezitatorin, und mit Elena Bashkirova und Michael Barenboim, dann bekommt das Festival tatsächlich den Schimmer eines großen Familientreffens. Es ist das erste Mal seit den sechziger Jahren, dass Argerich in Israel aufgetreten ist.
Daniel Barenboim hingegen, Bashkirovas Ehemann, tut das nicht mehr. „Es schmerzt ihn, sein Land in diesem Zustand zu sehen“, sagt sie. „Er kann sich nicht mehr mit Israel als Heimat identifizieren.“ Sowieso habe er immer weniger Zeit, Berlin nehme ihn völlig in Anspruch, vor allem seit der Pierre Boulez Saal eröffnet ist. „Er hat noch genug Pläne für 100 Leben“, sagt Bashkirova. „So muss wohl Glück aussehen.“ Glücklich auch, dass man sie selbst bald wieder in Berlin hören wird. Mit der Kammerakademie Potsdam und Antonello Manacorda spielt sie am 12. Oktober im Kammermusiksaal die beiden C-Dur-Klavierkonzerte von Mozart.