Jerusalem, Elena Bashkirova und das Kammermusikfestival: Bezahlt wird mit Hummus
Kunst ist Politik - und alles mit allem verwoben in Jerusalem: Zu Besuch bei Elena Bashkirova, der Leiterin des Jerusalemer Kammermusikfestivals.
Wer in Jerusalem einen Ort sucht, an dem die endlosen religiösen Scharmützel und Kämpfe wenigstens der Theorie nach nichts gelten, ist im Auditorium des YMCA gut aufgehoben. Eine flache, byzantinisch inspirierte Kuppel wölbt sich über den Saal, mystisches Licht fällt ein, das Ganze wirkt, obwohl „christlich“ vom Namen her, religiös amorph. Die zwölf Fenster stehen für die Stämme Israels, die Apostel Jesu und die Gefolgsleute Mohammeds. Ein Ort, mit dem sich jeder identifizieren kann, fern von „politischen und religiösen Eifersüchteleien“, so wollte es Arthur Louis Harmon, der auch einer der Architekten des Empire State Buildings war. Gleich gegenüber ragt das King David Hotel auf, die Altstadt ist in Sichtweite.
Gerade sitzt András Schiff am Steinway, vier Sonaten von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert hat er gespielt, ohne Pause. Eine Zugabe, noch eine – und noch eine. Der Saal ist komplett gefüllt, ältere Leute, in feinen Kleidern, mit Halsketten und Ohrringen. Draußen im Flur drängeln sie ohne Rücksicht, wie sich das für Israel gehört: Du musst dir deinen Platz in der Welt erobern. Hier drinnen aber sitzen sie still, eins mit der Musik, dankbar, erfüllt – auch nach drei Stunden noch. So lange dauert locker jedes der zwölf Konzerte des Jerusalem International Chamber Music Festivals, das dieses Jahr zum 18. Mal stattfindet.
„Unser Publikum ist unser größtes Wunder“ sagt Bashkirova
„Unser Publikum ist unser größtes Wunder“ sagt die künstlerische Leiterin Elena Bashkirova. „Sie sind so hungrig. 85-Jährige sagen mir, sie wollen etwas lernen. Wo gibt es das sonst?“ Eigentlich wohnt die Pianistin mit ihrem Ehemann Daniel Barenboim in Berlin, in Zehlendorf. Jetzt aber sitzt sie in ihrer Wohnung im Jerusalemer Stadtteil Yemin Moshe, mit Blick auf die Mauern der Altstadt.
Bis zum Sechstagekrieg war Jerusalem geteilt, und unmittelbar vor den Fenstern von Bashkirovas Wohnung, wo jetzt Spielplätze und Fußballfelder angelegt sind, herrschten Zäune und Stacheldraht. Yemin Moshe entstand im 19. Jahrhundert mit Geldern aus der Stiftung des Bankers Moses Montefiore. Den Namen kennt man immer noch, einer der Nachfahren, der Historiker Simon Sebag Montefiore, hat vor kurzem eine populäre Biographie Jerusalems geschrieben. Einst war das Viertel die erste jüdische Ansiedlung außerhalb der Altstadt, ein Signal: die Juden kehren ins Heilige Land zurück. Heute sind die Immobilienpreise kaum zu bezahlen.
„Um das Jahr 2000 war die Situation in Jerusalem sehr unsicher, es gab viele Anschläge, der Exodus kreativer Köpfe nach Tel Aviv setzte ein“, erzählt Bashkirova. Befreundete Musiker des Israel Philharmonic Orchestra beklagten: Die Stadt blute kulturell aus. So entstand die Idee eines Kammermusikfestivals. Bashkirova mobilisierte ihre vielen Freunde, die sie mit ihrer Eleganz, ihrer gewinnenden Persönlichkeit, dem Lächeln und dem aufmerksamen Blick über die Jahre gewonnen hat. Fast jeden Künstler, der hier auftritt, kennt sie persönlich. Elena Bashkirova ist die Seele des Festivals, Gastgeberin, tritt selbst auf und betätigt sich – etwa bei Mieczyslaw Weinbergs Klavierquintett, das András Schiff noch nie gespielt hat – auch als Notenumdreherin. Was sie ungemein formvollendet tut.
Abends im Restaurant: Pianist Martin Helmchen kommt rein, ein Berliner auch er, in zwei Tagen soll er Beethovens Klaviertrio Es-Dur und, mit Denis Kozhukhin, die Große Fuge op. 134 spielen. Jetzt begrüßt er András Schiff, der anerkennend am Rotwein aus dem Golan nippt. In Ungarn lebt Schiff schon lange nicht mehr, seit dem Tod seiner Mutter war er nicht mehr dort. Victor Orbán und dessen rechtsnationale Politik lehnt er aus tiefstem Herzen ab. Enttäuscht ist er aber besonders vom ungarischen Volk. „So weinerlich, voller Selbstmitleid. Immer sind andere am eigenen Unglück schuld.“
Kunst und Politik – alles ist mit allem verwoben in dieser Stadt hoch oben in den Bergen von Judäa, in der über den sichtbaren, anfassbaren Dingen so unfassbar waghalsige Glaubensgebilde errichtet wurden. In der sich so viel um Territorial- und Besitzansprüche dreht, symbolisiert durch Felsen: Golgatha und das Christusgrab in der Grabeskirche, der Felsendom, wo Gott die Welt erschaffen haben soll, der Fels in der Todesangstbasilika im Garten Gethsemane, wo Jesus die letzte Nacht gebetet und Blut geweint hat. So viel Fels, so wenig sicherer Boden. Der Exodus säkularer Israelis in die Küstenebene beschleunigt sich – viele ziehen, auch wegen der hohen Mietpreise, gleich weiter nach Berlin. Was wächst, ist die ultra-orthodoxe Bevölkerung und die arabisch-palästinensische in Ost-Jerusalem. Parallelgesellschaften, die strikt unter sich bleiben.
Andere Städte, Aleppo etwa, liegen in Schutt und Asche, der Nahe Osten frisst sich auf
„Kulturell ist Jerusalem keine Hauptstadt“, sagt Bashkirova, daran ändert auch ihr Festival wenig. Ein Tropfen auf den heißen Stein, wie auch „Seasons of Culture“ oder das „Festival of Light“: Es sind Versuche der Stadtverwaltung oder externer Zirkel, das Image der Stadt zu verbessern, die säkularen Israelis für ihre Hauptstadt zu interessieren. Immerhin, die Impulse sind da, aber meist schmelzen sie so schnell wie die Mauer aus Eis, die die Künstlerin Nova Dobel kürzlich gegenüber der Klagemauer errichtet hat. Jeder konnte Wünsche reinritzen, die dann mit dem Eis unter der mächtigen, weißlichen Wüstensonne im Boden verschwanden.
Der Sabbat hat begonnen. Aufzüge halten automatisch in jedem Stockwerk, damit Gläubige keine Knöpfe drücken müssen. Archaische Gesetze im High-Tech-Land Israel, eine Selbstverständlichkeit. Gesänge und feiernde Menschen vor der Klagemauer, oben auf dem Tempelberg ruft der Muezzin zum Freitagsgebet. Seit Jahren bewährte, prekäre Balance, die schnell explodieren kann. Zur Zeit ist alles friedlich, die Altstadt belebt, zumindest tagsüber, der Geruch von Falafel und der typischen Zatar-Gewürzmischung zieht durch die Gassen. Zerbrechliches, orientalisches Glück. Doch wie lange noch? Andere Städte, Aleppo etwa, liegen in Schutt und Asche, der Nahe Osten frisst sich auf. Israelis aber sind von Existenzkämpfen gestählt, der IS macht hier niemandem Angst. Dagegen bewegt jeden das Leid der Syrer. Eine Frau aus unserer Gruppe will eine Tagesdecke kaufen. Als der Verkäufer erfährt, dass sie für eine syrische Flüchtlingsfamilie gedacht ist, die sie bei sich in Berlin aufgenommen hat, schenkt er ihr noch Taschen und Kissen dazu. „Welche Schuhgröße hat die Frau?“, will er wissen. Seit Jahrzehnten sind Israel und Syrien verfeindet, aber es gibt Ebenen des Menschlichen, auf denen das keine Rolle spielt
Obwohl West-Jerusalem, wo das Kammermusikfestival stattfindet, nur 10 Gehminuten von der Altstadt entfernt liegt, findet kaum einer von dort den Weg hierher. Aber für die, die kommen, ist das Festival von besonderer Bedeutung: „In Tel Aviv würden wir weniger Wirkung haben“, sagt Bashkirova. Sie muss das Festival weiterentwickeln, das Publikum verjüngen. Vor einigen Jahren hat sie mit „Intonations“ einen Ableger im Berliner Jüdischen Museum etabliert – übrigens das einzige reine Kammermusikfestival Berlins. Für viele in Berlin lebende israelische Musiker und Komponisten eine wichtige Plattform. Was in Israel passiert, ist dagegen unerquicklich. Gerade erst hat Kulturministerin Miri Regev Daniel Barenboim wegen eines in Teheran geplanten Konzerts abgekanzelt, so Bashkirova. „Israels Politiker wissen nicht einmal, wie man Kultur buchstabiert“. Ihr Festival kommt ohne staatliche Förderung aus. Die Musiker bekommen keine Gage, nur die Reisekosten. „Wir bezahlen mit Hummus und drei Kilos mehr auf den Rippen“, sagt Elena Bashkirova lachend. Humor ist überlebenswichtig, gerade im Nahen Osten.
Udo Badelt