Bernd Scherer über 25 Jahre Haus der Kulturen: „Wir stellen Überlebensfragen“
Als das Haus der Kulturen der Welt gegründet wurde, stand die Mauer noch und der Begriff "Mulitikulti" war in vollster Blüte. Zum 25-jährigen Jubiläum zieht Intendant Bernd Scherer nun Bilanz. Ein Gespräch über neue Formen der Kulturvermittlung und die Verbindung von Wissenschaft und Kunst.
Herr Scherer, vor 25 Jahren wurde das Haus der Kulturen der Welt gegründet. Man schrieb das Jahr 1989, die Mauer stand noch. War das HKW ein Zeichen des Aufbruchs oder der Ermüdung im Westen?
Multikulti war damals das Schlagwort und in Berlin eine gelebte Realität. Damit wollte man sich in dieser neuen Institution auseinandersetzen. Die außereuropäischen Kulturen sollten in der geteilten Stadt eine Plattform bekommen.
Ein Vierteljahrhundert später: Berlin hat sich dynamisch verändert, ist eine internationale Metropole geworden. Viele Institutionen haben die Grundidee des HKW übernommen, arbeiten global vernetzt. Wozu braucht man das Haus noch?
Es war eine visionäre Gründung. Das HKW ist aus einer Randlage ins Zentrum der Hauptstadt gerückt. Aber auch die Themen, mit denen das HKW sich identifiziert, haben sich von scheinbaren Randfragen zu Kernproblemen unserer Zeit entwickelt.
Zum Beispiel?
Die Geschichte des Hauses reflektiert die Weltgeschichte der vergangenen 25 Jahre. Am Beginn ging es um Entdeckungen. Kuratoren reisten nach Afrika oder Lateinamerika und brachten Künstler und Schriftsteller mit, die bis dahin in Deutschland nicht bekannt waren. Als das HKW den großen palästinensischen Dichter Mahmoud Darwish vorstellte, saßen 800 Menschen im Auditorium. Und die Berliner Schriftsteller wunderten sich über diesen Auftrieb bei einer Dichterlesung, das waren sie nicht gewohnt. Es waren Gäste aus ganz Europa angereist, um Darwish zu hören. 1997 machte das HKW die Ausstellung „Die anderen Modernen“, als im Gropius-Bau die große Bilanz der westlichen Moderne gezogen wurde. Das HKW intervenierte damals gegen den Mainstream.
Es hatte doch solche Öffnungen und Expeditionen schon vorher gegeben in West-Berlin, bei den „Horizonte“-Festivals seit den Siebzigerjahren.
Das ist richtig. Das HKW war eine Art Konzentration und Weiterentwicklung davon. In der nächsten Phase, nach den Entdeckungen, hat das Haus im Wesentlichen nicht-europäische Kuratoren eingeladen, zum Beispiel Okwui Enwezor, der später die Documenta leitete und 2015 die Biennale in Venedig kuratiert.
Inzwischen hat sich das Programm des Hauses der Kulturen der Welt von Kunstausstellungen entfernt. Es geht jetzt um wissenschaftlich-politische Diskurse, die oft kompliziert anmuten.
Nicht nur die wirtschaftlichen Prozesse haben sich in den letzten zwanzig Jahren radikal verändert, sondern auch die kulturelle Produktion. 1993 präsentierten wir erstmals chinesische Avantgarde-Kunst in Europa, heute arbeiten Künstler wie Ai Wei Wei in der ganzen Welt. Die Unterscheidung europäisch/nicht-europäisch ist obsolet geworden. Wir können unsere eigene Gesellschaft nicht mehr verstehen, ohne sie im globalen Rahmen zu betrachten.
Auftrag erfüllt! Das Haus mit dem sperrigen Namen „der Kulturen der Welt“ hat sich im besten Sinn erledigt?
Das Haus, die Kongresshalle, war stets ein Symbol der Freiheit und der Moderne gegenüber dem Osten. Heute verstehen wir uns als einen Ort, wo deutsche Gesellschaft sich international definiert.
Genau diese Worte benutzt die Kulturstaatsministerin Monika Grütters allerdings, wenn sie vom künftigen Humboldtforum im Berliner Schloss spricht. Entsteht dort das größere HKW?
Es geht uns um einen neuen Kosmopolitismus, wo sich Bürger mit ihren lokalen Wurzeln in einer globalen Welt verorten. Mit einem nationalen Kulturverständnis kommt man nicht mehr weiter. Daher brauchen wir viele und vielfältige Institutionen dieser Art. Unser Haus hat in vielen gesellschaftlichen Diskursen eine Vorreiterrolle gespielt, etwa in der Frage der Migration und der großstädtischen Kulturen. Das Humboldtforum wird die großen Sammlungen aus Dahlem als Bezugspunkt haben. Die Herausforderung wird sein, wie man diese Sammlungen aus Afrika, Asien, Lateinamerika offen präsentiert, mit ihrer Geschichte und Provenienz. Es geht darum die Gegenstände der Sammlung im Forum neu zum Sprechen zu bringen. Wir, das Haus der Kulturen der Welt, sind kein Museum, wir haben keine Sammlung. Wir sind – Kongresshalle! – ein Ort der Versammlung.
Und ein Ort, der jedenfalls geografisch dem Kanzleramt und dem Bundestag nah ist. Das sind Ihre Nachbarn. Im Sommer haben sie vom Bundestag 15 Millionen Euro bewilligt bekommen für ein Langzeitprojekt. Das ist ein einmaliger Vorgang. Wofür das viele Geld?
Wir haben hier die Aufgabe, Ideen zu entwickeln in einer sich unglaublich schnell verändernden Zeit. Welche Zugänge können wir finden? Da gibt es natürlich die Wissenschaften, die jedoch disziplinär gebunden sind. Wir arbeiten wie ein Seismograph. Wir liefern der Gesellschaft neue Perspektiven auf die Welt, um neue Ideen zu entwickeln, nicht um in einzelnen Disziplinen zu verharren. Dafür wird das Haus mit solchen Geldmitteln ausgestattet. Für Themen wie das zweijährige „Anthropozän-Projekt“, dessen Abschlussprogramm wir jetzt eröffnen, braucht es einen langen Atem, um der Komplexität der Fragestellung gerecht zu werden. Das kann man in einem Festivalbetrieb nicht mehr abhandeln. Es folgt in den kommenden vier Jahren die Arbeit an „100 Jahre Gegenwart“.
Das HKW ist ein Forum, in dem sich Wissenschaft und Kunst verbinden.
Ihre Veranstaltungen und Projekte klingen oft etwas akademisch. Wird das hier eine Art Think Tank?
Dieses Haus ist eben kein klassischer Kunstort, kein Theater. Seine architektonische Form muss man ernst nehmen. Es ist ein Forum. Hier verbinden sich Wissenschaft und Kunst, die klassischen Institutionen der Moderne.
Hier wird gelernt, geforscht, debattiert. Das wirkt abstrakt.
Ist es aber nicht. Anfangs hat der „Anthropozän“-Titel viele irritiert, das war so gewollt. Es geht hier um die konkrete Entwicklung der Erde: den Verbrauch fossiler Brennstoffe, das Transportwesen, das Klima. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind diese vom Menschen getriebenen Entwicklungen explodiert, wenn man sich die Daten anschaut. Der Mensch beeinflusst das Erdgeschehen weit mehr als alle Naturkräfte und destabilisiert die Balance der Systeme. Der Mensch hat Prozesse angestoßen, die er nicht mehr kontrolliert. Für unsere Wahrnehmung heißt das: Wir müssen uns ganz neu orientieren. Über das traditionelle Forschen und Lehren hinaus brauchen wir die künstlerische Sensibilität, um die rapiden Veränderungen der materiellen Welt zu erfassen.
Ein Begriff wie „Anthropozän“ berührt alles. Das ist im Grunde Wahnsinn. Wie will man das fassen, eingrenzen, auch für das Publikum?
Natürlich lässt sich nicht die ganze Welt erfassen in einem Haus. Ziel ist es, Modellsituationen zu schaffen, in denen neue Denk- und Wahrnehmungsweisen eingeübt und diskutiert werden. Dabei ist künstlerische Fantasie gefragt Und was die Publikumsentwicklung betrifft: Wir haben neue Schichten erschlossen, vor allem jüngere Menschen kommen hierher, weil sie an diesen globalen Fragestellungen brennend interessiert sind. Es sind doch Zukunfts- und letztlich Überlebensfragen.
Das HKW hat kein Patent auf solche Prozesse und Themen. Wenn man über die Biennalen geht und die Festivals, geht es doch viel um die grundsätzlichen Dinge, vermengen sich Kunst und Wissenschaft, Ästhetik und Soziologie.
Die große allgemeine Überschrift lautet: Verlust der Wirklichkeit. Viele Künstler wollen nah an den Dingen arbeiten, neue dokumentarische Strategien entwickeln. Die alten Konzepte und Formen funktionieren nicht mehr. Der reine Eventcharakter von Kultur läuft leer. Viele Menschen haben ein ungeheures Bedürfnis, Fragen an die Welt zu stellen, nach Bedeutungen zu suchen, und zwar jenseits der klassischen repräsentativen Kategorien.
Das ist Politik, vielleicht Philosophie. Kaum mehr Kunst.
Wir brauchen den Freiraum der Kunst und der Wissenschaft, um Ideen zu entwickeln. Wir brauchen die Sensibilität der Künstler, der Schriftsteller für ein neues Weltverständnis. Im politischen Raum greifen sofort immer Machtüberlegungen. Projekte wie „Unmenschliche Musik“, „Animismus“ oder die jetzige Ausstellung von Adam Avikainen „CSI Department of Natural Resources“ belegen, wie es gelingen kann, neue Bilder für inhaltliche Problemstellungen zu schaffen.
Was Sie schildern, erinnert an den schon im 19. Jahrhundert problematischen Versuch Alexander von Humboldts, ein holistisches Weltbild zu finden. Übernimmt man sich da nicht?
Wir beschäftigen uns im HKW mit Umbruchsprozessen, Das geht von Migration über Finanzströme, Rückkehr der Religionen bis hin zu tiefgreifenden Veränderungen der Natur. Das ist in der Tat ein klassischer Humboldt-Gedanke: die Wechselwirkung von Kultur und Natur. Ein Beispiel: Wir produzieren in Europa Aerosole, die verändern die Klimabedingungen über der Sahara, Menschen, die in diesen Ländern immer Ackerbau betrieben haben, müssen aufgeben, sie fliehen nach Europa ... Für diese Phänomene und Wechselwirkungen wollen wir modellhafte, neue Wahrnehmungsformen finden. Die Perspektive hat sich seit Gründung des Hauses dramatisch gewandelt.
Bernd Scherer, Jahrgang 1954, ist Intendant seit 2006. Der Saarländer kam vom Goethe-Institut, arbeitete zuvor in Mexiko und Pakistan. Scherer lehrt als Honorarprofessor am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität. Jüngst wurde sein Vertrag von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bis Ende 2019 verlängert. Am 22. Oktober gibt es einen Festakt mit Monika Grütters und Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Am 16. Oktober wird die Ausstellung „Das Anthropozän-Projekt. Ein Bericht“ eröffnet.
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