Essay von Tim Renner: Wir sind Berlin
Berlin lebt von kreativem Potenzial, Kultur und Tourismus. Doch der Boom droht Künstler und Quartiere zu verdrängen, die den Erfolg erst möglich machen. Tim Renner plädiert für eine moderne Politik der Metropole.
Fast auf den Tag genau vor zwölf Jahren, am 2.Juli 2002, siedelte Universal Entertainment von Hamburg nach Berlin über. Ein Jahr zuvor war Berlin in die Knie gegangen. Der Zusammenbruch der Bankgesellschaft hatte Milliarden an Schulden hinterlassen und den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen aus dem Amt katapultiert. Abgeschreckt hat uns das nicht. Berlin lockte nicht mit seiner Kaufkraft oder Subventionen (die EU-Förderung finanzierte gerade mal die Umzugskosten). Der Grund für den Ortswechsel waren die vielen Kreativen in der Stadt.
Die Musikfirma, deren Job es ist, Trends aufzuspüren, hatte erkannt, dass sie hier bessere Mitarbeiter und mehr spannende Künstler finden würde als in der saturierten Hansestadt Hamburg. Die freien Flächen und geringen Lebenshaltungskosten zogen damals bereits Menschen aus aller Welt nach Berlin, die sich hier verwirklichen und ihre Ideen ausprobieren wollten. Genau solche Leute braucht man in der Kreativwirtschaft. Der Plan ist aufgegangen. Universal baute seine Position unter CEO Frank Briegmann in den letzten Jahren eindrucksvoll aus, mit über 30 Prozent Marktanteil in der deutschen Musikwelt.
Gut ausgebildete, junge Menschen strömen nach Berlin, die Attraktivität der Stadt ist hoch geblieben und der Trend, sich hier niederzulassen, ungebrochen. Die amtliche Statistik weist seit der Wiedervereinigung mit Schwankungen eine jährliche Ansiedlung von rund 120 000 Menschen in Berlin aus.
Lange hielten sich Zu- und Abwanderung noch halbwegs die Waage, in den letzten Jahren überwiegen klar die Zuzüge. Die Stadt wächst. Das Gewicht verschiebt sich zugunsten der Neuberliner: Sie überholten Ende des letzten Jahrzehnts bereits die Berliner „Ureinwohner“, die inzwischen weniger als die Hälfte der Bevölkerung stellen.
Die Struktur der Zuwanderer ist dabei überaus interessant und vielversprechend. Sie sind vergleichsweise jung (doppelt so viele 14- bis 44- Jährige wie im Berliner Durchschnitt) und gebildet. 64 Prozent haben Abitur oder Fachhochschulreife, im Vergleich zu 38 Prozent der Alt-Berliner. Fast zwei Drittel kommen aus dem Bundesgebiet, der Rest überwiegend aus den Mitgliedstaaten der EU. Aber wie wollen all die Menschen ihr Auskommen finden?
Berlin ist in wirtschaftlicher Hinsicht eine vielfach gebeutelte Stadt. Vor dem Zweiten Weltkrieg war hier der Sitz der Elektro- und Finanzindustrie. Fast 90 Prozent der Unternehmen an der Spitze der Börse, einen DAX gab es damals noch nicht, waren in Berlin beheimatet. Siemens, AEG und Co., aber auch die Banken wanderten teilungsbedingt ab und werden – abgesehen von Außenstellen – niemals wiederkommen. Die durch Subventionen aus der Bundesrepublik und der DDR am Leben gehaltene, industrielle Infrastruktur in West- und Ost-Berlin kollabierte nach der Wende. Sieht man vom mehr symbolischen Doppelsitz Berlin/München der Siemens AG ab, ist kein einziges Berliner Unternehmen mehr im DAX notiert.
Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist Berlins größte produzierende Branche
Seit 2002 ist die Stadt trotzdem eine Wachstumslokomotive. Berlin ist ein kulturelles Versprechen. Selbst im globalen Krisenjahr 2009 war Berlin das einzige Bundesland mit einer positiven Wirtschaftsentwicklung. Wir kommen dabei zugegebenermaßen von einem geringen Niveau. Richtig ist auch, den Trend können in dieser Region weder Landwirtschaft, Rohstoffe noch Industrie treiben. Das alles haben wir nicht oder nicht in ausreichendem Maße. Die Menschen ziehen nicht wegen eines sicheren Arbeitsplatzes bei Daimler oder Bosch in diese Stadt, sie wollen nicht auf Feldern oder in Minen arbeiten, sondern sie zieht ein kulturelles Versprechen hierher. Das bildet sich auch wirtschaftlich ab: Fast 15 Prozent der Wertschöpfung in Berlin kommen aus Kultur- und Kreativwirtschaft und Tourismus. Das beläuft sich nach den letzten Erhebungen auf 24,4 Milliarden Euro. Mehr als 400 000 Menschen geben diese Bereiche Arbeit.
Damit ist Kultur- und Kreativwirtschaft die größte produzierende Branche. Der Tourismus ist bereits seit längerem die größte Dienstleistungsbranche der Stadt. Beide Bereiche sind eng miteinander verzahnt. 74 Prozent der Berlin-Touristen kommen wegen des Kulturangebots.
Es muss selbstverständlich werden, Kreativität in der Stadt zu halten
Es sind in erster Linie Künstler und Kreative, die unfreiwillig auch die Entwicklung von Immobilienpreisen antreiben, wie der Sozialwissenschaftler Andrej Holm von der Humboldt-Universität Berlin aufgezeigt hat. Angezogen durch günstige Lebenshaltungskosten und erwartete Freiräume für Selbstentfaltung, siedeln sich Künstler und Kreative, Menschen mit hohem kulturellem Kapital, in vernachlässigten Quartieren an. In der Folge wandelt sich die Wahrnehmung dieser Quartiere von heruntergekommenen zu besonderen Orten. Sie laden sich mit dem kulturellen Kapital ihrer Bewohner auf und werden zu In-Vierteln, die in Romanen und Reiseführern beschrieben werden. Angelockt vom besonderen Image ziehen einkommensstarke „echte“ Gentrifizierer zu. Die Bodenpreise steigen, und es wird in Modernisierung investiert. Die Verdrängung beginnt.
Durch Verkauf und teurere Vermietung werden ökonomische Gewinne eingefahren. Das ursprünglich von den Künstlern mitgebrachte kulturelle Kapital hat sich in ökonomischen Mehrwert verwandelt. Das wusste man in Berlin schon lange. In der Szene heißt die Formel verkürzt: Erst kommen die Künstler, dann die Clubs und Galerien und schließlich die Immobilienentwickler...
Mit Universal haben wir es damals nicht anders erlebt. Als ich die Presse und Gäste auf dem Dach des ehemaligen Eierspeichers an der Oberbaumbrücke begrüßte, hatte die Regie das Rednerpult bewusst gen Norden gedreht. Im Süden war Leerstand im benachbarten Getreidespeicher zu sehen, ein Schrottplatz und die verfallenen Hallen der alten Hafenanlagen, die damals noch einige Künstler, ein Indie Label und Proberäume beherbergten. Auf der anderen Spreeseite waren bereits Clubs und Musikstudios zu finden. Sie alle hatten den Ausschlag für die Mikro-Standortentscheidung gegeben, aber der Blick auf die Innenstadt und den Alex sah deutlich besser aus.
Heutzutage finden sich dort, wo einst kreatives Chaos herrschte, Müll herumlag und Unkraut wuchs, die Showrooms vieler internationaler Luxus-Modemarken, das Produktionshaus Fernsehwerft, Viacom, der Muttersender von MTV und Viva, so wie das Headquarter von Coca Cola Deutschland. Der Getreidespeicher ist gut vermietet, sowohl an Startups wie „Freshmilk“ wie an Ableger der Forschungs-Labs der Deutschen Telekom. Eines der jüngsten Gebäude ist ein Hotel, das über das Thema Musik versucht, Gäste zu binden. Es verfügt über ein Studio, und im Foyer spielt in der Regel eine Band.
Der ehemalige Osthafen boomt. Besser kann man die katalysatorische Kraft der Kreativität kaum veranschaulichen. Die Clubs und Studios auf der Kreuzberger Seite der Spree gibt es dort zum Glück noch, viele Künstler wurden aber bereits verdrängt.
Damit die kreativ getriebene Zuwanderung anhält und die Transformation von kulturellem in ökonomisches Kapital nicht zu einer Verödung von Stadträumen führt, müssen wir diejenigen schützen, die den Boom ausgelöst haben und befeuern. Das sind die Künstler, mit ihren Studios, Ateliers oder Proberäumen. Sie im Rahmen von Luxussanierung, Umwidmungen oder Problemen mit Lärmemissionen zu vertreiben, heißt den Rohstoff zu verlieren, von dem Berlin seit geraumer Zeit lebt. Das Gleiche gilt für Kulturräume wie Museen, Theater, Oper, Konzerthallen und Clubs. Selbst die Karaokebühne im Mauerpark muss unbedingt erhalten bleiben.
Ist Kulturförderung nicht auch Bestandteil von Innovationsförderung?
Es muss selbstverständlich werden, künstlerische Aktivität und Kreativität in der Stadt zu halten, wenn wir die Entwicklung Berlins vorantreiben wollen. Das gilt auch und gerade für die Bezirke, nicht als Anerkennung oder nette Geste gegenüber den betroffenen Künstlern und Kreativen, sondern im Eigeninteresse der betroffenen Stadtgebiete. Orte, die nicht mehr zulassen, was in Berlin Grund für Zuwanderung und Wachstum ist, schaden sich selbst. Der Prenzlauer Berg ist ein Synonym für solch ein Quartier geworden. Wenn sich der Bezirksbürgermeister von Pankow jetzt um die Wiedereröffnung des Knaack Clubs bemüht und sich engagiert für den Erhalt der Ateliers in der Prenzlauer Promenade einsetzt, so ist das kluge Standortpolitik.
Für die wachsende Stadt Berlin bedeutet das, wir müssen Kulturpolitik sowohl zusammen mit Wirtschaftspolitik als auch im Rahmen von Stadtentwicklung denken. Natürlich trägt Kultur ihren Zweck in sich selbst, und Künstler definieren sich nicht über Wertschöpfung, Abstrahleffekte und Quartiersentwicklung. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Eine moderne Kulturpolitik muss sich jedoch in einer Stadt wie Berlin diesen Herausforderungen stellen und handeln. Neben der systemischen Relevanz von Kultur für die Stadtgesellschaft, besteht mittlerweile eine ebensolche für die Wirtschaft und Stadtentwicklung von Berlin.
Wir sollten deshalb offen darüber diskutieren, ob Kulturförderung nicht auch Bestandteil von Innovationsförderung ist. Und überlegen, ob eine Liegenschaftspolitik nicht eine viel engere Einbeziehung von Kultur benötigt. Und wir müssen darum ringen, dass Kultur in gleichem Maße Berücksichtigung in Bebauungsplänen findet, wie es berechtigterweise die Bildung erfährt. Wollen wir unser Wachstum als Stadt sichern, dann müssen wir zusehen, unser Kulturversprechen auch in Zukunft zu erfüllen.
Tim Renner ist seit 28. April 2014 Staatssekretär für Kulturelle Angelegenheiten in Berlin. Von 2001 bis 2004 war er Geschäftsführer bei Universal Music. In der kommenden Woche beschäftigt sich der Berliner Senat in einer Klausur mit dem Thema der wachsenden Stadt.
Tim Renner