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Ian McEwan las am 14.Oktober im Berliner Ensemble aus seinem neuen Roman "Honig".
© dpa

Interview mit Ian McEwan: "Wir sind alle Spione"

Der Schriftsteller Ian McEwan hat sich schon öfter mit Geheimagenten befasst. Im Interview spricht er über den NSA-Skandal, die heimlichen Kulturprogramme der CIA, seinen neuen Roman "Honig" - und warum er schon 1987 wusste, dass bald die Mauer fallen würde.

Der britische Schriftsteller Ian McEwan, 1948 in Aldershot geboren, ist einer der renommiertesten Autoren seines Landes. Seine bekanntesten Romane sind "Der Zementgarten" (1982), "Unschuldige" (1990), "Abbitte" (2001), "Saturday" (2005) und "Solar" (2010). Er beschäftigt sich mit Gegenwartsthemen wie dem Klimawandel oder der Angst vor dem Terror, für seinen Politroman "Amsterdam" erhielt er 1998 den Booker-Preis. Er schrieb auch Drehbücher und Erzählungen, mehrere seiner Romane wurden erfolgreich verfilmt, darunter "Unschuldige" und "Abbitte". Wir trafen den 65-Jährigen in einem holzvertäfelten Konferenzraum im Berliner Soho House, in dem man hinter jedem Wandschrank Abhörwanzen vermutete. Nicht zuletzt, weil sein jüngster Roman "Honig" in der Welt des britischen Geheimdiensts spielt. Mc Ewan lebt mit seiner Frau, der Journalistin und Schriftstellerin Annalena McAfee auf dem Land bei Oxford und in London. Auf Deutsch sind seine Bücher bei Diogenes erschienen.

Mr. McEwan, „Honig" ist Ihr zweiter Spionage-Roman nach „Unschuldige“. England in den  70er Jahren, die junge Akademikerin Serena heuert beim Geheimdienst an und bietet einem Schriftsteller ein vom MI 5 finanziertes Stipendium an. Sie verliebt sich und muss ihre wahre Identität verbergen. Warum immer wieder Spione?

Dank Ian Fleming, John Le Carré, Graham Greene oder Somerset Maugham, die ja selber beim Geheimdienst arbeiteten, ist der Spionageroman ein etabliertes Genre. Genres gehorchen Regeln, das macht sie attraktiv, denn Regeln sind der Motor der Kreativität. Außerdem hat der Stoff selber es in sich. Im Kalten Krieg hat die CIA heimlich Kultur und Kunst finanziert, mit Hunderten Millionen von Dollar. Das Ziel war, linke Intellektuelle in Europa davon zu überzeugen, dass der Westen der bessere Teil der Welt war. Sie sollten davon abgebracht werden, mit dem Kommunismus zu liebäugeln.

Sie haben sich öfter darüber beklagt, dass kaum ein deutscher Schriftsteller über die Mauer schrieb, außer Peter Schneider in „Der Mauerspringer“. In „Honig“ legen Sie diese Klage Ihrem jungen Alter Ego in den Mund, dem Schriftsteller Tom Haley.

Ich habe weniger geschimpft als gestaunt: Was für ein Thema und niemand schreibt darüber! Wenn Menschen merken, dass sie mit ihrem Gegner einer Meinung sind, glauben sie oft, dass sie sich irren – interessant! Übrigens hatte die CIA einen sehr guten Geschmack. Ich verstehe zwar nicht, wieso man im Geheimen agiert, wenn man die offene Gesellschaft propagieren will, aber sie finanzierten Neue-Musik-Festivals, Ausstellungen zum Abstrakten Expressionismus,  Zeitschriften  wie „Encounter“ in England oder „Der Monat“ in Deutschland

… in der unter anderem Thomas Mann, Adorno, Hannah Arendt und Heinrich Böll schrieben. „Encounter“ druckte eine Ihrer Kurzgeschichten.

 Aber erst 1974, da war die Sache bekannt und die CIA hatte sich zurückgezogen. (Einem Freund von mir erging es da schlechter. Er schrieb damals ein Buch darüber, dass die Demokratie für postkoloniale afrikanische Staaten besser sei als der Sozialismus, und erfuhr Jahre später, dass die CIA es indirekt finanziert hatte. Nicht mal sein Verleger wusste das.) Spione, die die Imagination unterwandern wollen, das interessierte mich. Und die Vorstellung, dass die Imagination sich rächt. Der britische Auslandsgeheimdienst MI 6  hat George-Orwell-Übersetzungen bezahlt, in 17 oder 18 Sprachen. Hat die Literatur da nicht umgekehrt vom Geheimdienst profitiert?

Wie haben Sie recherchiert?

Viele Geheimdokumente sind inzwischen freigegeben, deshalb sind in letzter Zeit etliche gute Bücher erschienen. Ich las auch Memoiren und traf mich zum Lunch mit John Le Carré. Er ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Zum Beispiel wusste er nie, ob seine Kollegen beim MI 5 und beim MI 6 Genies oder Idioten sind, weil ja keiner über seine Arbeit reden durfte. Die spielten auch untereinander Geheimdienst. Das habe ich im Roman verwendet. Oder ein Kollege verschwindet von einem auf den anderen Tag, und man weiß nicht, ob er nun befördert oder geschasst wurde.

Bradley Manning hätte besser in Deutschland Asyl beantragen sollen

Der britische Schriftsteller Ian McEwan ist kürzllich von London aufs Land gezogen, in die Nähe von Oxford. Seine Bücher erscheinen auf Deutsch im Diogenes-Verlag.
Der britische Schriftsteller Ian McEwan ist kürzllich von London aufs Land gezogen, in die Nähe von Oxford. Seine Bücher erscheinen auf Deutsch im Diogenes-Verlag.
© Annalena McAfee/Diogenes Verlag.

Durch die Enthüllungen von Edward Snowden sind die Geheimdienste noch mehr in Verruf geraten. Was sagen Sie als literarischer Spionage-Experte zum NSA-Skandal?

Ich bin alarmiert. Wie benutzen tagtäglich ausgefeilte Kommunikationstechnologien, von denen wir vor zehn Jahren nicht einmal geträumt hätten. Das macht uns verletzlicher. Wir fangen an zu realisieren, wie kompliziert die alte Frage von Freiheit und Sicherheit geworden ist. Klar, wir brauchen Schutz, aber wir brauchen auch geschützte Privaträume – ein fragiles Gleichgewicht, das gekippt ist. Dieselbe amerikanische Regierung, die Snowden den Prozess machen möchte, erwägt nun die Einrichtung einer Kommission zur Kontrolle der NSA. Das heißt, sie erkennt an, dass er der Öffentlichkeit einen großen Dienst erwiesen hat. Er hätte nicht in Russland Asyl beantragen sollen, sondern in Deutschland. Ein deutsches Gericht könnte sagen: Wir sehen, was mit Bradley Manning geschehen ist, ...

... dem Whistleblower, der Wikileaks Geheimdokumente der US-Army zugespielt hat.

Manning wurde vor seiner Verurteilung zu 35 Jahren Haft unter unmenschlichen Haftbedingungen festgehalten und misshandelt. Die Deutschen hätten sagen können: Dem amerikanischen Rechtssystem ist nicht zu trauen, es missachtet die Regeln der Europäischen Menschenrechtskonvention. Aber wer weiß, ob der deutsche Geheimdienst den Amerikanern nicht einen Gefallen schuldet und ihn vielleicht doch ausgeliefert hätte.

Wie geht es Ihnen als Schriftsteller bei dem Gedanken, dass mit Programmen wie Prism oder XKeyscore nicht nur unser reales Handeln, sondern auch unsere Fantasien ausspioniert werden können?

Wir müssen uns über unseren eigenen Anteil daran im Klaren sein. Wir sind begeistert in dieses große Becken namens Internet gesprungen, wir schimpfen sofort los, wenn wir mal keinen Internetzugang haben. Offenbar wollen wir die ganze Zeit ausspioniert werden! Dennoch ist die bloße Möglichkeit des Ausspähens besorgniserregend, sie bedeutet Macht, und Macht muss berechenbar bleiben. Auch Manning hat seinem Land übrigens einen Dienst erwiesen, ich habe etliche der veröffentlichten diplomatischen Depeschen gelesen und war beeindruckt. Praktisch alle amerikanischen Diplomaten, die in nicht-demokratischen Ländern arbeiten, äußern sich mit deutlicher Antipathie über die Tyrannen dieser Welt. Selbst wenn es offizielle Verbündete Amerikas sind, wie Saudi-Arabien. Nirgendwo auch nur eine Spur von Heuchelei. Manning hat niemandem ernsthaft geschadet, sie hätten ihn nicht belangen dürfen. Frag drei Millionen Menschen, ob sie ein Geheimnis für sich behalten – unmöglich! Bei so vielen Amerikanern, die seit 9/11 für die Sicherheit des Landes arbeiten, musste irgendwann jemand den Mund aufmachen.

Sie sagen, alle Romane sind Spionageromane, alle Schriftsteller Meisterspione. Wie das?

Weil auch wir das Verhalten der Menschen insgeheim registrieren. Ich bin ein bisschen wie ein Beamter im Propagandaministerium. Bestimmte Informationen enthülle ich, andere halte ich zurück, manchmal führe ich den Leser bewusst in die Irre oder gaukle ihm die Illusion eines glaubwürdigen Erzählers vor.  In „Honig“ geht es die ganze Zeit um die Frage: Wer erzählt hier eigentlich?

Macht das Schreiben mehr Spaß, wenn sie die Tricks und Maskeraden der Fiktion zum Romanstoff machen?

Ja, es ist ein Spiel, eine große Freude. Wobei die literarische Selbstreflexion immer das solide Gerüst einer Handlung braucht. Anders gesagt, ich wollte, dass „Honig“ sowohl Serena gefällt, die einfach wissen will, wie es weitergeht, und am Ende auf ein “Heirate mich” hofft, als auch dem Schriftsteller Tom, der den selbstreflexiven postmodernen Roman schätzt. 

Toms Erzählungen, die im Roman zitiert werden, sind Ihre eigenen Stories aus jungen Jahren.

Ich habe sie etwas verbessert, hat aber keiner gemerkt. Es sind auch verworfene Plots dabei, Ideen aus alten Notizbüchern. Besonders gerne mochte ich die Geschichte von dem atheistischen Bruder eines erkrankten Vikars, der einspringt, in der Kathedrale eine Predigt hält und Gefallen daran findet.

So fing es an: Ich schreibe jetzt 5000 Wörter bis Sonnenaufgang

Der britische Schriftsteller Ian McEwan ist kürzllich von London aufs Land gezogen, in die Nähe von Oxford. Seine Bücher erscheinen auf Deutsch im Diogenes-Verlag.
Der britische Schriftsteller Ian McEwan ist kürzllich von London aufs Land gezogen, in die Nähe von Oxford. Seine Bücher erscheinen auf Deutsch im Diogenes-Verlag.
© Annalena McAfee/Diogenes Verlag.

Wann haben Sie damals eigentlich beschlossen, Schriftsteller zu werden?

In meinem dritten Uni-Jahr in den späten Sechzigern kam mir der Gedanke, dass es toll wäre, an der Konversation der Schriftsteller über die Jahrhunderte hinweg teilnehmen zu können. Ich schrieb dann das weltschlechteste Theaterstück, ein, zwei schreckliche Erzählungen und studierte im ostenglischen Norwich. Da hatte ich diesen romantischen Impuls, Ende September 1970, um 6 Uhr abends, in einer winzigen Studentenbude in einem großen Haus, an einem winzigen Schreibtisch aus Holz. Plötzlich dachte ich, ich bleibe jetzt hier sitzen und schreibe 5000 Wörter bis Sonnenaufgang. Das war es. Ab und zu schaute ich hoch, sah, dass es hell wird, und dachte, das ist das Aufregendste, was ich je in meinem Leben gemacht habe.

Mögen Sie im Rückblick diesen jungen Mann von damals?

Den Schriftsteller oder die Person?

Ist das ein großer Unterschied?

Oh ja, als Autor war ich Existentialist. Ich schrieb diese finsteren Geschichten, sehr klar, sehr präzise. Aber anders als heute ließ ich vieles weg, was mich eigentlich interessierte, Geschichte, Wissenschaft, Musik, die Liebe… Aus einer Art ästhetischen Ideologie heraus, der viele Schriftsteller meiner Generation anhingen. Das hatte schreckliche Folgen. Gute Romane müssen spezifisch sein, genau verortet. Nur dann ist das Erzählte verallgemeinerbar. Damals las ich Kafka, übernahm vieles von ihm, fand ihn universell. Heute lese ich seine Geschichten als spezifische Erzählungen aus dem Prag der 20er Jahre.

Wann änderte sich das bei Ihnen?

Mein Freund Martin Amis und ich erfanden die typische literaturprogrammgeförderte Erzählung. Der Autor hatte einen deutsch-italienisch-französischen Namen, die Auflage betrug nicht mehr als 200, aber das Buch gewann sämtliche Preise. Es handelte von einem Mann, dessen Name nicht genannt wird, der in einer Stadt, die nicht näher beschrieben wird, in einem Hotelzimmer auf den Anruf von jemandem wartet, den er nicht kennt und der ihm etwas mitteilt, was der Leser nicht erfährt. Während er wartet, starrt er an die Wand. Wir schrieben viele solcher “An die Wand starren”-Romane. Eine Selbstparodie, ich fing langsam an, mich von der Wand abzuwenden.

„Honig“ handelt vom Prozess des Schreibens, des Lesens und Gelesenwerdens: Haben Sie darüber etwas Neues herausgefunden?

Ich wollte immer wissen, welchen Unterschied es bei der Lektüre macht, ob ich den Autor kenne oder nicht. Wenn ich den Roman eines Freundes lese ...

... zu Ihren Schriftsteller-Freunden gehören  auch Salman Rushdie, Timothy Garton Ash, der verstorbene Ian Hamilton ...

…, dann höre ich ihre Stimme. Romane sind sehr persönliche Texte – jedenfalls wenn sie nicht "an die Wand starren" -, man exponiert sich. Folglich gehört zur Lektüre auch der vulgäre Impuls, über die Person dahinter zu spekulieren. Als soziale Wesen „lesen“ wir einander ja auch unentwegt, entziffern die Körpersprache, die Nuancen in der Stimme. Wir sind alle Spione.

Haben Sie Angst, Ihrerseits mithilfe Ihrer Texte ertappt zu werden?

Früher ja, heute nicht mehr. Wenn ich umgekehrt Details realer Personen in der Fiktion verwende, versuche ich sie zu tarnen. Es gibt skrupellosere Schriftsteller, nicht die schlechtesten übrigens, Saul Bellows oder John Updike. In den 70er Jahren gab Philip Roth mir einen Rat: „Schreib immer so, als ob deine Eltern schon tot wären.“ Ein bisschen rücksichtslos muss man sein, ich versuche, dabei so höflich wie möglich zu bleiben.

Die Wohnung in Ihrem Roman „Saturday“ war Ihre eigene Londoner Wohnung. Hat Ihre Familie da nicht protestiert?

Ich habe es ihnen vorher gezeigt, sie waren einverstanden. Der Sohn des Helden trägt die Gesichtszüge meines jüngeren Sohns, so etwas hatte ich vorher noch nie gemacht. Ich zeigte ihm das Manuskript, bat ihn um Erlaubnis. Er war hocherfreut, im Roman vorzukommen.

Ich war 13, hatte meine erste Kamera und machte Unmengen Fotos von der Berliner Mauer

In „Honig“ tauchen reale Personen auf, Martin Amis, Ihr früherer Verleger Tom Maschler.  Eine britische Zeitung schrieb, dass die Figur von Serena Ihrer ersten Liebe aus Ihrer eigenen Universitätszeit in Sussex gleicht, Polly Bide, die bereits gestorben ist. Haben Sie die Lebenden auch um Erlaubnis gefragt?

Martin musste ich nicht fragen, so gut wie er wegkommt in der Szene, in der er der Star eines Leseabends in New York ist. Tom Maschler habe ich alles vorher geschickt. Das mit Polly Bide stimmt nicht, Serena gleicht ihr überhaupt nicht. Ich schrieb einen Brief an ihre Kinder, die ich sehr schätze: Ich versichere Euch, Serena ist nicht Eure Mutter. Als Schriftsteller bekommt man es immer mit der Wirklichkeit zu tun: Ich erfand den Namen Tom Healy, im Roman lehrt er in Sussex. Dann stellte sich heraus, dass es heute in Sussex tatsächlich einen Literaturdozenten diesen Namens gibt, also änderte ich ihn in Haley. Als mir Healy kürzlich eine Auszeichnung überreichte, war er ganz enttäuscht, dass ich es nicht bei seinem Namen belassen habe. Sie sehen, wie man es macht, ist es falsch!

Welche Beziehung haben Sie denn zu Ihren Romanfiguren?

Man verliebt sich in sie, es ist ein langsamer Prozess. Wenn das Buch dann veröffentlicht ist und wir hier im Interview über eine Figur wie über eine Person sprechen, die wir beide kennen, dann hüpft mein Herz. Sie ist lebendig geworden! Ich gehe zu einer Lesung, jemand erwähnt Briony aus „Abbitte“ oder Henry Perowne aus „Saturday“ – ach, dann gibt es einen Vogel in meinen Hinterkopf, der zwitschert vor Freude. Seit der Verfilmung von „Abbitte“ ist meine Vorstellung von Briony übrigens vollständig von der  Schauspielerin Saoirse Ronan eingenommen – ein geniales Casting!

Haben Sie Lieblinge?

Briony gehört dazu, auch Henry. Im Moment schreibe ich einen Roman über eine Richterin, eine kratzbürstige, unangenehme Person. Ich mag sie sehr.

Und wie geht es Ihnen, wenn die Wirklichkeit zurückschlägt? Sie beenden Ihren Berlin-Roman  „Unschuldige“, mit Spionagetunneln von West- nach Ost-Berlin, prompt fällt die Mauer. Sie schreiben „Saturday“ über die Terrorangst nach 9/11, kurz danach gibt es Terroranschläge in London.

Ich bin bestimmt kein Prophet. Als ich an „Unschuldige“ arbeitete, wusste ich, dass der Kalte Krieg bald vorbei ist, denn ich war als Mitglied der Gruppe „European nuclear disarmament“ in Russland gewesen. Wir setzten uns dafür ein, dass die russische Friedensbewegung von der Regierung nicht länger verfolgt wird und hatten Zugang zu hohen Politikern. Wir sprachen mit ihnen über Perestroika und Glasnost, und es war offensichtlich, dass Gorbatschows Liberalisierungsprozess außer Kontrolle geraten würde, sobald er verfügt hatte, dass keine Gewalt gegen Dissidenten mehr angewendet werden soll. Ich war dann zur 750-Jahr-Feier Berlins hier in der Stadt und bin mit einem Freund, meinem Übersetzer Bernhard Robben, an der Mauer entlang geradelt.

Sie waren schon als Junge in Berlin.

Mit meinem Vater, einem Armeeoffizier. Ich war 13, hatte meine erste Kamera geschenkt bekommen und machte Unmengen Fotos von der Mauer. Kürzlich fand ich einige der Bilder, ich finde sie so gut, dass ich mich frage, ob sie wirklich von mir stammen. Ende der Achtziger hatte ich dann das klare Gefühl, es kann nicht mehr lange dauern. Mit diesem Gefühl schrieb ich „Unschuldige“. Als dann die Mauer fiel, war es nicht leicht, einen Flug zu bekommen, aber am 10. November war ich wieder hier.

Ian McEwan las am 14.Oktober im Berliner Ensemble aus seinem neuen Roman "Honig".
Ian McEwan las am 14.Oktober im Berliner Ensemble aus seinem neuen Roman "Honig".
© dpa

Sie sind ein Nachrichten-Junkie. Muss ein Schriftsteller sich für seine Arbeit nicht aus der Realität zurückziehen?

Jetzt, wo ich hauptsächlich auf dem Land in der Nähe von Oxford lebe, lese ich Zeitungen meistens auf dem iPad. Es hätte keinen Sinn, sie sich schicken zu lassen, es ist alles so schnell. Wenn ich morgens um Neun die „Herald Tribune“ lese, denke ich, stand das nicht gestern schon in der „New York Times“ und vorgestern im Netz? Um schreiben zu können, muss ich viel Nein sagen. Täglich kommen sechs, sieben Einladungen, zu Lesungen, Veranstaltungen mit großartigen Leuten an großartigen Orten. Man muss zuhause bleiben können, aber ab und zu muss man raus. Timothy Garton Ash liest keine Mail vor 14 Uhr, das schaffe ich selten. Es gibt eine tolle Software namens „Freedom“, da kann man eingeben, wie viele Stunden die Mails und das Internet blockiert werden sollen. Der Computer verwandelt sich wieder in eine Schreibmaschine. Dummerweise mache ich von „Freedom“ noch nicht genügend Gebrauch.

Ian McEwan: "Honig", Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich 2013. 448 S., 22, 90 €

Hier eine Leseprobe aus "Honig":

Interview: Christiane Peitz

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