Eröffnung Salzburger Festspiele: Wir Kinder des Staubs
Zur Eröffnung der Salzburger Festspiele inszeniert Peter Sellars einen matten „Idomeneo“. Teodor Currentzis glänzt am Pult.
„Wir grüßen uns mit schweißnassen Händen, wir könnten registrieren, dass hier etwas im Gange ist, wenn wir wollten.“ Bereitwillig greift Österreichs Bundespräsident Alexander van der Bellen jenen Faden auf, der zur Eröffnung der 99. Salzburger Festspiele kunstvoll im Deutungslabyrinth ausgelegt ist. Eigentlich will sich das Festival ja in dieser Saison dem Thema „Mythen“ widmen, doch Peter Sellars, Regisseur der Auftaktpremiere, lenkt den Blick auf eine menschengemachte Katastrophe: die Veränderung des Weltklimas, die unsere Lebensgrundlagen bedroht. Und weil Sellars ebenso eloquent wie von unerschütterlicher Menschenfreundlichkeit beseelt ist, darf der Theatermann auch die Festrede an der Salzach halten. In ihr schlägt sich der 61-Jährige auf die Seite der Jugend, die demonstriert und Handeln einfordert, und er beklagt Verantwortungsträger, „die bereit sind, die nächste Generation zu opfern“.
Bei Mozart schlagen die Wellen musikalisch hoch
So wie in Mozarts „Idomeneo“. In ihr erkennt Sellars eine Oper über das Meer, dessen Gott Neptun seine Macht in vernichtender Stärke zeigt, um die Menschen zur Vernunft zu bringen. Aus dem Meer sind wir gekommen, ohne die Ozeane gäbe es kein Leben. „Wir tragen Meere der Liebe in uns, Meere des Schmerzes, Meere der Sehnsucht und der Reue, des Wissens und des Mitgefühls, Meere der Freude und Meere der Hoffnung“, so beschreibt es Sellars. Bei Mozart schlagen die Wellen musikalisch hoch, erreichen gar die Ausmaße eines Tsunami. Kein Wunder, dass „Idomeneo“ an die Grenzen dessen stieß, was zu Lebzeiten des Komponisten auf der Opernbühne darstellbar war. Mozart hat sein Werk, das er als 24-Jähriger schrieb, nie so gehört, wie er es sich vorgestellt hat. Weil der Nachwelt „Idomeneo“ eher als Steinbruch denn als geschliffener Edelstein erschien, wurde die Oper lange Zeit wenig beachtet.
Sellars, der vor zwei Jahren die Festspiele mit Mozarts „Titus“ eröffnet hat, weiß sich in bestem Einvernehmen mit dem „aufbegehrenden, ungeduldigen, ungestümen und genialen“ Komponisten, wenn er nun eine Fassung von „Idomeneo“ präsentiert, die schneller auf den Punkt kommen will. Er streicht weitestgehend die Rezitative, die wie Buhnen den Schlag der Wellen mindern, gibt aber auch Momente emotionaler Klarheit dazu. Neptun, der hart mit den vertragsbrüchigen Menschen ins Gericht geht, bekommt eine Arie aus „Thamos, König von Ägypten“ obendrauf – und was für eine: „Ihr Kinder des Staubs, erzittert und bebet, bevor ihr euch wider die Gottheit erhebt.“ Als Ausdruck dafür, dass Mozart nie mit seiner unvollendeten Opernschöpfung abgeschlossen hat, wandert die spätere Konzertarie „Non temer, amato bene“ auf „Idomeneo“-Texten in die Aufführung, ein Destillat aller erdenklichen Herzensmeere, dem sich zu entziehen unmöglich ist.
Idomeneo feilscht mit Neptun um sein Leben
Traumatisiert von den Folgen des Trojanischen Kriegs spielt „Idomeneo“ unter Menschen, die vertrieben oder geflohen sind, an denen Hass und Bitternis nagen und die doch nur zusammen auf ihrer Insel Kreta leben können. Die Natur ist in Aufruhr, alles aus der Balance nach dem endlosen Schlachten. Das Meer verschlingt viele der vermeintlichen Sieger, andere erreichen erst nach Irrfahrten wieder festes Land. Beinahe wäre Idomeneo mit seiner Flotte ertrunken, doch er feilscht mit Neptun um sein Leben und verspricht den ersten Menschen, der ihn, den halbtoten Monarchen, am Strand findet, als unschuldiges Opfer. Es wird seinen Sohn Idamante treffen. Kulturbruch, Flüchtlingsströme, Verschiebung von unreflektierter Schuld auf die kommende Generation – Mozart spielt Sellars und seiner Sicht der Tragödie überraschend schlüssig in die Hände. „Der unwissende Mensch, der sich in destruktiven, für ihn selbst und sein Umfeld verheerenden Taten ergeht, verstrickt sich in einem fatalen Gewirr aus Selbstgerechtigkeit, kurzsichtigem Denken und Realitätsverweigerung“, diagnostiziert der Regisseur. Die Götter sprechen zu uns, doch wir sind unfähig, sie zu hören.
Es spielt das Freiburger Barockorchester
Das ist der Einsatz für Teodor Currentzis, der nach „Titus“ zum zweiten Mal mit Sellars den Salzburger Sommerreigen eröffnet und an der Salzach vom kritisch beäugten Klassikberserker zur umjubelten Lichtgestalt des Festivals avanciert ist. Diesmal hat der Dirigent von seinem Ensemble Musicaeterna nur den fantastischen Chor mitgebracht, im Orchestergraben vor der riesigen Bühne in der Felsenreitschule sitzt das Freiburger Barockorchester. Seine hingebungsvollen Musikerinnen und Musiker hat Currentzis im Sturm erobert oder besser: inmitten der tosenden Brandung. Mozarts Partitur beginnt mit einem Unwetter und wird sich zum vernichtenden Seebeben steigern, das Idomeneo mit seinem unseligen Neptun-Deal über sein Volk bringt. Aber auch dazwischen schwankt der Boden, taumeln die Menschen vor Liebe und Eifersucht, Furcht und Hass, das ganze Leben ein Spiel der Wellen, die durch das Orchester rauschen. Currentzis weiß ozeanische Gefühle aus der Musik zu lesen wie kaum ein anderer, er peitscht auf und lässt die Gischt funkeln, seine Finsternis leuchtet, und der erzählende Ton reißt dabei wundersamerweise niemals ab.
Teodor Currentzis erweist sich als Trumpf
Am Abend zuvor hat er noch das SWR Symphonieorchester, dessen Chef er seit knapp einem Jahr ist, in gigantischer Besetzung durch eine den Extremen huldigende Aufführung von Schostakowitschs Siebter gejagt. Nun schenkt er bei Mozart der kleinsten Bewegung der Seele seine ganze Aufmerksamkeit, auch im ersten auskomponierten Quartett der Operngeschichte. Aus dem Beharren auf der eigenen Verletzung wird tatsächlich Mitgefühl, eine vierstimmige Vision von Gleichberechtigung. Es sind die Sängerinnen, die diesen Abend auch vokal strahlen lassen, Paula Murrihy in der Hosenrolle des Idamante sowie Ying Fang als Ilia und Nicole Chevalier als Elettra, die um seine Liebe konkurrieren und dabei ihren Dämonen begegnen. Die stimmliche Autorität von Russel Thomas in der Titelrolle ist dem Abdanken näher als dem störrischen Aufbegehren wider besseres Wissen.
Teodor Currentzis beweist sich als Trumpf für Intendant Markus Hinterhäuser, mit dem er einen Mozart-Zyklus ohne Beteiligung der Wiener Philharmoniker eingefädelt hat – für Salzburg ein unerhörter Vorgang, der wohl noch nicht abgeschlossen ist. Dann bliebe auch Peter Sellars die Chance, noch ein drittes Mal die gleichen inszenatorischen Mittel aufzufahren. Bei allen guten Vorsätzen und sinnhaften Aufführungsfassungen wirkt die sich in Andeutungen von Ritualen erschöpfende Theatersprache so müde, als würde die nächste Welle sie von der Bühne spülen. Vielleicht steckt dahinter ja der geheime Plan von Sellars, als Meister darin, Künstler aus verschiedenen Kulturkreisen zusammenzubringen, aufzugehen in einer neuen Gemeinschaft, die beherzt ihre eigenen Akzente setzt. Zuzutrauen wäre es ihm. Dann würde auch die polynesische Balletteinlage am Ende des Abends nicht mehr so abgestellt wirken, sondern kraftvoller Teil eines neuen Bewusstseins werden. Bis es so weit ist, reichen wir uns schweißnasse Hände. [Weitere Aufführungen am 2., 6., 9., 12., 15. und 19. August. Im TV am 15. August um 21.15 Uhr auf Servus TV. Weitere Infos unter: salzburgfestival.at]