Berlinale Talents: Wie vom Blitz getroffen
Berlinale-Talents: Beim Förderprogramm des Festivals trifft der Nachwuchs auf etablierte Filmemacher wie David Lowery.
Mehr als 500 Menschen in einem Saal, darunter viele junge Filmschaffende aus aller Welt. Sie sitzen im Hebbel am Ufer, kurz HAU 1, und schauen Richtung Bühne. Dort zu sehen ist – nichts. Also fast nichts, nur Moderatorin Jenni Zylka und ein Mann mit einem sehr kahlen, wunderbar runden Schädel, auf dem sich das Licht der Scheinwerfer spiegelt. Beide haben das Kinn in die Hände gestützt und lauschen, wie aus den Lautsprechern P. J. Harveys Song „Desperate Kingdom Of Love“ dringt.
David Lowery heißt der 38-Jährige mit der Glatze. Er ist Regisseur von Filmen wie „A Ghost Story“ und „Ein Gauner und Gentleman“ mit Robert Redford - und obendrein Musikliebhaber. Im HAU spricht er an diesem Berlinale-Tag darüber, wie ihn Musik zu seiner Arbeit inspiriert. Er gebe den Schauspielern beim Dreh sogar Songlisten mit, um ihnen die Atmosphäre des Films zu vermitteln, erklärt er. Eine dieser Songlisten hat er zu der Veranstaltung im HAU mitgebracht, die Teil des Talents-Programms ist.
Talents, das ist eine Förderinitiative, die seit 2003 im Rahmen der Berlinale stattfindet. In diesem Jahr versammelt sie 250 junge Filmemacher und Filmemacherinnen aus 77 Ländern. Sie wohnen zum Großteil in einem Hostel am Tempelhofer Ufer, schlafen in Doppelstockbetten, tauschen sich aus, gehen zu Veranstaltungen und lernen etablierte Kollegen, genannt Experten, kennen.
„Ich verlieb’ mich richtig in ein Thema“
Eines der Talente ist Laurentia Genske, eine junge Frau mit offenem Gesicht, durchdringenden blauen Augen und einer quecksilbrigen Energie. Während des Gesprächs – gleich gegenüber des Hostels, im Café im HAU 2 – wuschelt sich die 30-jährige Kölnerin immer wieder durch die langen rotblonden Haare. Oder sie dreht ihren Haargummi in der einen Hand, während die andere in der Luft Pirouetten vollführt. Und sie erzählt gern, schweift auch mal ab und fragt den Gesprächspartner über sein Leben aus.
Sie kann sich nicht helfen: Als Dokumentarfilmerin wird sie schnell gefesselt vom Schicksal ihrer Mitmenschen. „Wenn man offen ist für Menschen und Begebenheiten, passieren die Dinge von ganz allein“, sagt sie. Bisher ist Laurentia Genske gut gefahren mit dieser Maxime. Ihr Abschlussfilm „Am Kölnberg“, den sie an der Kölner Kunsthochschule für Medien gemeinsam mit Robin Humboldt gedreht hat, lief erst auf dem Dokumentarfilmfestival in Leipzig und wurde dann mit etlichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem deutschen Dokumentarfilmpreis.
Derzeit entsteht ihr zweiter Langfilm, „Im Städtle“, über zwei junge syrische Transsexuelle in Stuttgart. Ein Thema, das sie bereits seit zweieinhalb Jahren verfolgt, mit großer Hingabe. „Ich verlieb’ mich richtig in ein Thema“, sagt sie und fügt hinzu: „Das muss man auch, man verbringt schließlich viel Zeit damit.“ So arbeitet Laurentia Genske: Sie begleitet ihre Protagonisten, wohnt und schläft sogar bei ihnen, gewinnt ihr Vertrauen, bis sie die Kamera nicht mehr wahrnehmen. „Da ist ganz viel Geduld, ganz viel Leidenschaft gefordert“, sagt sie.
Die bringt sie mit, das merkt man ihr an. Was ihr noch fehlt, ist das nötige Wissen über die Business-Seite. Zum Beispiel darüber, wie man ein freies Filmformat finanziert, unabhängig vom Fernsehen mit seinen eingefahrenen Erzählwegen. Das lernt sie bei den Talents. Die Regisseurin lernt auch, dass sie sich überwinden und Öffentlichkeitarbeit machen muss, obwohl sie ihre Filme am liebsten für sich sprechen lassen will. „Ich mag es eigentlich nicht, mich anzubiedern“, erklärt sie. Doch nach den ersten Talents-Tagen ist ihr klar geworden: „Ein Film läuft auf einem Festival, klar, aber da muss man auch präsent sein.“
Der Gedanke, einmal mit einem Film im Gepäck zur Berlinale zurückzukehren, gefällt Laurentia Genske. „Ich würde schon gerne mal im Wettbewerb laufen“, stellt die Filmemacherin fest und lacht. Bis dahin macht sie einfach weiter. „Man darf nicht aufgeben“, sagt sie. „Wenn man selbst an den Film glaubt, findet sich bestimmt eine Nische für ihn.“
In den Jahren haben sich die Fehler angehäuft
Damit hat sie den Ratschlag schon verinnerlicht, den Regisseur David Lowery seinen jungen Kollegen mit auf den Weg gibt: „Beharrlichkeit ist alles“, sagt er. Lowery muss es wissen, schließlich war er 2005 selbst im Nachwuchsprogramm der Berlinale dabei. „Als Talent bemerkt und akzeptiert zu werden, schlug bei mir ein wie ein Blitz“, erinnert er sich. „Zum ersten Mal fühlte es sich an, als würde jemand in der Welt da draußen anerkennen, dass ich etwas von Bedeutung beizutragen hatte.“
Nach seinem musikalischen Einsatz als Talents-Experte im HAU 1 nimmt sich David Lowery ein paar Minuten Zeit für ein Gespräch. Er sitzt an einem kleinen Tisch unten im Hostel am Tempelhofer Ufer, vollkommen aufmerksam, die Augen aufgerissen, die Brauen leicht gehoben, und berichtet von seiner Zeit als Talent. „In ein anderes Land zu kommen und eine Woche unter Gleichgesinnten aus aller Welt zu verbringen, die ich vorher überhaupt nicht gekannt hatte, öffnete mir die Augen. Es zeigte mir einen Weg in die Zukunft“, sagt er mit seiner tiefen Stimme. „Ich reiste wieder ab aus Berlin mit einem Plan in meinem Kopf - tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben.“
Dieser Plan hat ihn erst jetzt, 14 Jahre später, wieder zur Berlinale geführt. Es fühle sich merkwürdig an, zurück zu sein. „Als wäre die Zeit in sich zusammengefallen“, erklärt er. „Der einzige Unterschied zwischen mir damals und heute sind die Fehler, die ich seitdem angehäuft habe.“ Damit passt er gut zum Motto der diesjährigen Talents: „Mistakes - How to Fail Better“, wie man besser scheitert.
Tatsächlich lief noch keiner von David Lowerys Filmen im Festivalprogramm. Ob ihm Laurentia Genske noch zuvorkommt?