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Aus zweiter Hand. Vincent van Goghs Gemälde „Häftlinge beim Rundgang“ von 1890 beruht auf einer Grafik von Gustave Doré von 1872.
© Staatliches Puschkin-Museum, Moskau, Scala

Ausstellung in der Tate Britain: Wie van Gogh in London seine künstlerischen Wurzeln fand

Vincent van Gogh lebte als junger Mann in London. Mit Malerei hatte er nichts im Sinn. Die Tate Britain zeigt, wie diese Zeit trotzdem sein Werk prägte.

In dem Hollywoodfilm „Lust for Life“ (Ein Leben in Leidenschaft), den der leichthändige Vincente Minnelli im Jahr 1956 über das Leben Vincent van Goghs drehte, zieht der von Kirk Douglas verkörperte Maler hinaus in die provençalische Natur. Vom düster-schmutzigen London ist da keine Spur, und vermutlich wissen nur die wenigsten, die van Goghs Landschaften lieben, von den insgesamt zweieinhalbjährigen Aufenthalten des Malers in London und dem Südosten Englands zwischen Mai 1873 und Ende November 1876.

Maler? Da fängt’s schon an. Denn Maler wollte er in London weder sein noch werden. Er strebte eine Tätigkeit als Laienprediger an, „eine Stellung zwischen Pastor und Missionar, bei arbeitenden Menschen in den Londoner Vorstädten“, wie er im Juni 1876 an seinen Bruder Theo schrieb. Stattdessen verschlug es Vincent ins belgische Borinage, diese Industrielandschaft voll unbeschreiblichen Elends, wo er regelmäßig zu zeichnen begann.

Autodidakt und Sammler

Ein kurzer Ausschnitt aus Minnellis Film ist am Ende der Ausstellung „Van Gogh and Britain“ zu sehen, die das Londoner Museum Tate Britain soeben eröffnet hat. Ihr Ziel ist ein doppeltes: Im ersten Teil soll gezeigt werden, welche Anregungen van Gogh für sein späteres künstlerisches Werk in London empfangen hat, im zweiten, welche Wirkung umgekehrt die Gemälde van Goghs auf britische Künstler gehabt haben.

Nicht, dass der zweite Teil der Ausstellung ohne Interesse wäre – nur gibt es da nicht viel vorzuzeigen. Die Maler der Insel blieben im Verhältnis zu van Gogh epigonal, und hätte es Francis Bacon nicht gegeben, der auf seine Art die existenzialistisch-expressive Richtung einschlug, für die der Niederländer steht, so wäre der britische Ertrag mickrig zu nennen. Nichts in diesem Teil der Ausstellung kommt den Werken van Goghs nahe.

Solidarität mit den Ärmsten

Von Interesse ist hingegen der erste Teil. Die gezeigten Gemälde, allesamt aus der reifen Schaffenszeit und von höchster Qualität, illustrieren den Londoner Aufenthalt in der Rückschau – denn seinerzeit, wie gesagt, hat van Gogh noch nicht gemalt, und was er zeichnete, waren die unbeholfenen Versuche eines Autodidakten. So schlägt die Ausstellung einen interessanten Bogen von den Büchern, die Vielleser van Gogh verschlang, besonders von Dickens, zu den gängigen Grafiken, die seinerzeit das Medium der Verbreitung schlechthin waren. Bezeichnend für van Goghs fortdauernde Beschäftigung mit London ist die Zeichnung, der er den englischen, mit dickem Bleistift hingeschriebenen Titel „The Dustman“ gab, der Müllmann, aber wohlgemerkt 1882 und also lange nach dem Aufenthalt an der Themse. In der Ausstellung ist ihr das Blatt eines Berufsgrafikers von 1873 an die Seite gestellt, „Eine Londoner Müllkippe“, die genau jene Ärmsten auf der Suche nach Verwertbarem im Müll zeigt, mit denen sich van Gogh solidarisierte.

Van Gogh, der materiell nicht so bedürftig war, wie die Legende es will, sammelte an die 2000 Grafiken, meist aus Illustrierten. Aber auch die „höhere“ Kunst bediente sich des Massenmediums. Der Franzose Gustave Doré hatte mit der Serie der „Pilgrimage“ 1872, im Jahr vor van Goghs Ankunft in London, ein in ganz Europa bekanntes Bild der Themsen-Metropole von Rauch und Düsternis geschaffen, gipfelnd in der als Darstellung des Hofganges im Gefängnis von Newgate. Ausgerechnet diese Szene ist die einzige, die van Gogh, der als Maler gerne auf grafische Vorlagen zurückgriff, aus Dorés London-Zyklus in Öl malte, ein Kerker ohne ein Fitzelchen Himmel, die Häftlinge im ewigen Kreislauf ihrer Schritte gefangen. Dieses Gemälde aus dem Todesjahr des Malers 1890 als Leihgabe des Moskauer Puschkin-Museums in der Tate Gallery sehen zu können, ist allein eine Reise wert.

Das Stadtleben als Inspiration

Was van Gogh an englischer Kunst sah und schätzte, wird gleichfalls in der Ausstellung gezeigt; insbesondere Landschaften, etwa von John Constable, die ihrerseits auf ältere niederländische Vorbilder zurückgreifen. Und er sah die Gemälde seines Zeitgenossen James McNeill Whistler, der mit seinen „Nachtansichten der Themse“ Sensation machte. Später besaß van Gogh das Blatt aus Dorés Zyklus, „Abend an der Themse“, wo sich im Hintergrund die Parlamentsgebäude schemenhaft im berüchtigten Dunst abzeichnen. Als Kontrapunkt wird das berühmte Gemälde aus van Goghs Zeit in Arles zu sehen sein, „Sternennacht“ von 1888, wo die funkelnden Sterne am Himmel mit den Gaslaternenlichtern am Ufer wettstreiten. Der kühle Mistral, so heißt es im Katalog, habe hier den Dunst der Londoner Zeit hinweggeblasen. Auch dieses Gemälde, wenngleich im Pariser Musée d’Orsay eher zugänglich als das Bild aus Moskau, zählt zu den Höhepunkten der Ausstellung.

Rund 50 Arbeiten von van Gogh sind zu sehen. Das Thema der Ausstellung hält der tradierten Betonung des Spätwerks etwas entgegen, das für die Entwicklung des Künstlers von zentraler Bedeutung war und stets unterschätzt wird: die Anteilnahme am menschlichen Leben in seinen niedergedrücktesten Erscheinungsformen. In London liegen die Wurzeln seiner späteren, scheinbar so unvermittelten Künstlerschaft. Umso unwirklicher scheinen die strahlenden Sonnenblumen, die es in der Ausstellung auch gibt – in der Version aus der Londoner Nationalgalerie – und die, wie man ahnt, hier einbezogen sind, um die Erwartungen eines touristischen Publikums nicht zu enttäuschen.

London, Tate Britain, Millbank, bis 11. August. Katalog 25 GBP. www.tate.org.uk

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