Im Kino: „Loving Vincent“ über van Gogh: Der erste Ölfilm der Kinogeschichte
„Loving Vincent“ würdigt das niederländische Malergenie und verwandelt die Kinoleinwand in ein fließendes Ölgemälde. Ein furioser und bahnbrechender Kunstfilm.
Der meistantizipierte Kunstfilm des Jahres erreicht ganz zum Schluss die Kinos. Was für eine Gelassenheit, was für eine Sicherheit, Höhepunkte zu setzen. Buchstäblich Höhe-Punkte, Punkte in der Höhe also – nein, Höhen-Wirbel aus Licht und Verzweiflung. Sternenfurien? Van Gogh hat sie gemalt, und mit ihnen hebt „Loving Vincent“ von Dorota Kobiela und Hugh Welchman an. Mit dieser Selbstprophetie, die dem nächtlichen Himmel alles Schützende, alles Bergende nimmt – nichts bleibt vom sicher sich wölbenden Sternenzelt. Die Illusion der Beheimatung wird durchschaubar.
Menschen, die an diesem Unort ihr Leben verbringen, nennt man auch Künstler. Van Gogh durfte von sich sagen, dass ihm nichts erlassen wurde, was zu diesem riskanten Aufenthalt gehört. „Wir können nur durch unsere Bilder sprechen“, schrieb der Maler seinem Bruder, dem Pariser Kunsthändler Theo. Es handelt sich um ein sehr schönes Bespiel eines selbstevidenten Satzes. Aber was bedeutet das für einen Film über van Gogh?
Ein Film, der aus 65 000 Ölbildern besteht
Du sollst keine anderen Bilder haben neben den meinen! Irgendwann müssen Dorota Kobiela und Hugh Welchman diesem Imperativ gefolgt sein, und sie beschlossen, den ersten Ölfilm der Kinogeschichte zu drehen. Also einen Film, der aus lauter Ölbildern besteht, 65 000 insgesamt. So viele mussten es schon sein, geschaffen von 125 Künstlern. Und das Unfassbare geschieht: Van Goghs Bilder, diese Ikonen der Malerei an der Schwelle zur Moderne, die für viele Menschen zum seelischen Bestand gehören, beginnen sich zu bewegen. Als wäre man noch einmal bei der Erfindung des Kinos dabei.
Plötzlich fahren wir an dem Baum vorbei, der unter allen todunglücklichen van-Gogh-Bäumen nur ein einziger sein kann: der arme, schiefe Stamm mit seinen wenigen Blättern im „Sämann“, und richtig, neben ihm steht die sinkende Sonne. Und eben diesen Baum streift der junge Armand Roulin, im Ohr die Stimme des Malers: „Was bin ich in den Augen der meisten Menschen, ein Nichts, ein Niemand.“ Einer, „der in der Gesellschaft keine Stellung hat und auch nie eine haben wird. Kurz, der Niederste der Niederen.“ Und dann folgt das große Aber, folgt die Selbstauskunft des Malers, was er der Welt noch zu beweisen gedenke, und genau in diesem Augenblick ist der Wagen vorüber und gibt den Blick frei auf van Goghs Figur des Sämanns, des großen Bürgen des neuen Anfangs in allem Ende, des großen „Stirb und Werde!“ Das ist Präzision. Und diese virtuose Genauigkeit enthebt die polnisch-britische Koproduktion in fast jeder Einstellung des Verdachts des bloßen Animationskinos der Superlative.
Niemand in "Loving Vincent" ist erfunden
Aber wer um Himmels willen ist Armand Roulin?
Armand Roulin war der Sohn des Postmeisters von Arles, der im Gegensatz zu den meisten misstrauischen Dorfbewohnern bereit war, diesem verrückten Holländer Modell zu sitzen, auch wenn er wohl nur bedingt verstand, was es bedeutet, Inhaber eines „Sokrateskopfes“ zu sein, wie van Gogh behauptete. Postmeister Roulin hatte für ihn jene Art von Liebe, wie sie ein alter Soldat manchmal für einen jungen Rekruten empfindet. Schützen konnte sie den Rekruten nicht.
Und genau hier kommt Armand Roulin ins Spiel, Träger der fiktiven Filmklammer: Im Sommer 1891, ein Jahr nach dem Tod des 37-jährigen Vincent van Gogh, beauftragt der alte Roulin seinen Sohn, dem Pariser Kunsthändler Theo van Gogh einen letzten, seinerzeit postmeisterlich verlegten und daher nie zugestellten Brief des Bruders zu überbringen. Doch er trifft Theo nicht mehr unter den Lebenden.
Vincent und Theo waren, so erfährt der widerwillige Beauftragte, zwei Herzen und eine Seele. Das zurückgelassene fand allein keinen Grund mehr zum Weiterschlagen. Das erfährt Roulin vom Farbenhändler Pere Tanguy in Paris, der die Paletten der Avantgarde ausstattete. Niemand in „Loving Vincent“ ist erfunden.
John Sessions spielt Tanguy, Robert Gulaczyk van Gogh und Douglas Booth gibt Armand Roulin Körper und Stimme. Denn „Loving Vincent“ ist, obwohl er aus 65 000 Gemälden besteht, ein Film mit wirklichen Menschen. Nur ging es den Schauspielern am Ende wie unzähligen Bildern in der Geschichte der Malerei: Sie wurden einfach übermalt.
Gauguin porträtierte van Gogh als Halbaffen
Nach der Begegnung mit dem Farbenhändler der Avantgarde will Roulin mehr wissen. Beging van Gogh wirklich Selbstmord, wie die Zeitungen schrieben? Mit ihm lernt das Publikum die Menschen und Landschaften kennen, denen der Maler in den letzten Jahren seines Lebens begegnete. Jetzt sind es seine Orte, sind es seine Menschen. Vincent van Gogh, der Vorübergeher, der überall fremd blieb, den Orten wie den Menschen, er hat ihnen Heimatrecht in seiner Welt gegeben. Er schuf sie noch einmal, gültiger jetzt. Und sehen wir inzwischen nicht sogar die Sonnenblumen mit seinen Augen?
Die Sonnenblumen malte er im gelben Haus von Arles zum festlichen Empfang von Gauguin, mit dem er eine Kunst- und Lebensgemeinschaft beginnen wollte. An deren Ende war sein linkes Ohr unvollständig, aber es hätte schlimmer kommen können. Gauguin porträtierte van Gogh als Halbaffen, und dieser erkannte: „Ja, das bin ich, aber als Wahnsinniger.“
Alle Bilder, alle Schönheit, die dieser furiose Film zeigt, entstanden nach diesem Selbstbefund. Auch das vermutlich einzige, das er zu Lebzeiten verkaufte. Das Porträt des Arztes wurde 1990 für 82,5 Millionen Dollar verkauft.
Und was sind die Sternenwirbel, diese Furien am Himmel? Sind sie Gauguins Parteigänger, Vorwegnahmen des Endes? Physiker und Mathematiker erkannten in ihnen bereits präzise Darstellungen des erst heute mathematisch beschreibbaren Phänomens der Turbulenzen. Oder sollte Don McLean sie doch besser interpretiert haben, als er sein „Starry, starry Night“ schrieb – für Vincent van Gogh?
In 13 Kinos, OmU: Babylon Kreuzberg, Delphi Lux, Hackesche Höfe, Kulturbrauerei, Moviemento, Tilsiter Lichtspiele
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