Tocotronic in Berlin: Wie sie leben wollen
Moderne Klassiker aus einem anderen Pop-Deutschland, jenseits vom Echo-Grusel: Das Konzert von Tocotronic in der Berliner Columbiahalle.
Als allerletzte Zugabe spielen Tocotronic tatsächlich wieder „Freiburg“, einen Song ihres ersten, 1995 veröffentlichten Albums „Digital ist besser“. Darin lästert Sänger Dirk von Lowtzow über die Tanztheater und Fahrradfahrer „dieser Stadt“, singt „Ich bin alleine und find es sogar cool“, und das hat gerade in Berlin etwas schön Gemeinschaftsstiftendes, schließlich ist ein Großteil des Publikums aus ähnlichen Gründen der Provinz und den Studentenstädtchen entflohen. Das war natürlich alles vor Jahren, vor vielen Jahren, in denen die Band aus Hamburg genau wie ihr Publikum älter und älter geworden ist. Sowas verbindet. Klar, es kommen immer wieder ein paar neue Fans dazu. Doch hier singen fast alle mit, hier lässt bei „Drüben auf dem Hügel“, ebenfalls einem Song vom Tocotronic-Debüt erstmals die ganze Halle die Sau raus, als sei das hier ein Tote-Hosen-Konzert. Und hier umgarnt von Lowtzow immer wieder sein Publikum, betont, wie toll es sei, ohne es die Band nur halb so gut wäre. Und er sieht zu Beginn mit seiner Adidas-Trainingsjacke zumindest von weitem so aus, als würden die neunziger Jahre nie zu Ende gehen.
Es wird an diesem Abend also viel Erinnerungsarbeit geleistet. Dazu passt, dass von Lowtzow den Song „Electric Guitar“ des jüngsten Albums „Die Unendlichkeit“ schon als „modernen Klassiker“ bezeichnet, dieses Album ja überhaupt ein Memoir sein soll, „eine Autobiografie in zwölf Kapiteln“, wie die Band in Interviews verlautbarte.
Tocotronic spielen sich durch ihr Gesamtwerk
Die lässt sich auf einem Live-Konzert naturgemäß nur schwer erzählen. Tocotronic spielen nicht einmal die Hälfte von „Die Unendlichkeit“, sondern arbeiten sich quer durch ihr Werk, mit Stücken wie „Let There Be Rock“ von 1999, "This Boy Is Tocotronic" von 2002 oder „Kapitulation“ von 2007. Irgendwann stellt man sich die Frage: Hat die Band eigentlich mal einen Echo gewonnen oder war dort nominiert? Und ist es nicht eine Wohltat, dass es jenseits des Echo-Gruselpops von Rap über Schlager bis Rock noch gute deutschsprachige Popmusik gibt? Tocotronic verstehen sich auf den schnellen, kurzen Gassenhauer genauso wie auf die ausgewalzten, etwas sämigeren Rockstücke, für die nicht zuletzt der 2004 zu der Band gestoßene zweite Gitarrist Rick McPhail unverzichtbar geworden ist. Und sie haben mittlerweile verinnerlicht, nicht nur als Diskurs-Rockband zu gelten, sondern auch eine zu sein mit einer dazugehörigen korrekten politischen Haltung.
So überrascht es nicht, dass von Lowtzow dazu aufruft, die Organisation Pro Asyl zu unterstützen, die sich für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten einsetzt; die Band mache das selbst seit 2013. Danach spielen sie „Wie wir leben wollen“ mit den für die spätere Tocotroni -Phase typisch kryptischen, schwer interpretierbaren Zeilen wie „Ich bin hier nur Tourist/Ich bin nicht integriert/Das Dasein das ich friste/Hat ein anderer inszeniert", um kurz darauf „Aber hier leben, nein danke“ anzustimmen, einen Song, den wieder die ganze Halle mitgrölt. Diese Art von Dialektik hat Tocotronic berühmt gemacht, und natürlich fährt die Band inzwischen gern Fahrrad und geht auch ins Tanztheater.
Gerrit Bartels
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