Berlin Festival: Tocotronic – Let there be Rock
Tocotronic haben den deutschen Pop revolutioniert – heute treten sie auf. Zum 20. Bandjubiläum erinnern sich Tagesspiegel-Autoren an Songs, die ihr Leben verändert haben.
„Freiburg“ (1995)
Um mein Leben zu retten, pathetisch gesagt, kam dieses Stück leider um Jahre zu spät. „Freiburg“ war das Eröffnungsstück des Tocotronic-Debütalbums „Digital ist besser“, das im Frühjahr 1995 erschien. Zu dieser Zeit hatte ich der niedersächsischen Universitätsstadt Göttingen bereits den Rücken gekehrt. Aber eine Offenbarung war das Stück trotzdem, mit diesen schweren, bohrenden Gitarren und den schwermütig vorgetragenen Zeilen: „Ich weiß nicht, warum ich euch so hasse, Fahrradfahrer dieser Stadt“. Später sind es die Tanztheater und die Backgammonspieler dieser Stadt, die der damals 23-jährige Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow so hasst. Das sprach mir aus der Seele, das waren meine Erfahrungen, die ich nicht in Freiburg, sondern 1986 und 1987 als Studienanfänger in Göttingen gemacht hatte: Kaz-Keller, Fachschaftstreffen, Blauer Turm, Studentenparties. Die Fahrradfahrer und Tanztheater sind in „Freiburg“ die Chiffre für die Selbstzufriedenheit und wohlige Beengtheit von Orten wie diesen: Universitätsstädten mit schnuckeliger Altstadt und ausschließlich studentischem Nachtleben. Aber auch einer linken Szene, die seinerzeit in Göttingen verhärtet und unattraktiv war. Um Distinktion nach allen Seiten (Bürgertum, Studis, linke Szene) geht es bei Tocotronic, wie die Zeile „Ich bin alleine und ich weiß es und ich find es sogar cool“ beweist. Ich war in Göttingen auch allein, fand es nur gar nicht cool. Ich wollte weg, Berlin, Hamburg, Köln, egal. Cool war immerhin, dass sich ein paar Jahre später noch immer nichts geändert hatte. Eine Stadt wie Freiburg (wahlweise Göttingen, Tübingen, Marburg) kann kein Fest fürs Leben sein. Gerrit Bartels
„Ich habe geträumt, ich wäre Pizza essen mit Mark E. Smith“ (1996)
Eine der wichtigsten deutschen Bands der letzten zwanzig Jahre und die britische Punk- und Independent-Legende, deren experimentell-mutige Wortmeldungen Bestandteil meiner musikalischen Sozialisation waren – Tocotronic und Mark E. Smith von The Fall. Ein Gipfeltreffen. Der Sänger aus Manchester mit seinem Außenseiter-Snobismus war die einzige Konstante meiner, sagen wir, Lehr- und Wanderjahre. 1996 schien mir Smith stehen geblieben, machte mehr durch Heavy-Avantgarde-Shit und Alkoholabstürze als durch gute Musik von sich reden. Dann hörte ich wieder mal John Peel. Er spielte Dirk von Lowtzows Tribut an den Meister. „Ich habe geträumt, ich wäre Pizza essen mit Mark E. Smith / Natürlich hat er mir erzählt, wie scheußlich alles ist / Wir haben geredet und gesessen, fast die ganze Nacht / Am Ende hat er mir erzählt, wie man Platten macht.“ Keine Ahnung, was Mark E. Smith von der Hamburger Schule hält. Die extreme Basslastigkeit von Tocotronic müsste ihm gefallen. Mir gab der Song einen Kick. Wenn von Lowtzow nicht von Pizza geträumt hätte, wären mir Perlen aus dem Fall’schen Spätwerk entgangen, wie das Album „Your Future Our Clutter“. Einziger Schönheitsfehler: Dieser Tocotronic-Hit ist viel zu kurz. 68 Sekunden. Vielleicht kann man vom Dauer-Grantler und exzessiven Biertrinker Mark E. Smith aber auch nicht länger träumen. Markus Ehrenberg
„Sie wollen uns erzählen“ (1997)
Es gibt das Lied einer österreichischen Band namens Heinz mit dem Titel „Ich hab mit Tocotronic Bier getrunken, und ihr habt sie nur live gesehen.“ Obwohl ich die Ironie verstand, war ich neidisch. Weil ich das doch auch tun wollte: mit Tocotronic Bier trinken. Ich bin dann extra an meiner Hochschule der Unizeitung beigetreten und habe mir ein Interview erschlichen, ich glaube, so bin ich Journalist geworden. Wir saßen im Hamburger Café Oriental, der Dirk, der Jan und ich, vor mir ein Yogi-Tee. Sie merkten schnell, dass ich keine Ahnung hatte von Interviews – dass hier ein Fan fragte. „Wen meint ihr eigentlich, wenn ihr singt: ,Sie wollen uns erzählen, sie hätten eine Seele?‘“ – „Das ist nicht leicht zu beantworten.“– „Meint ihr die Banker? Die Politiker? Das ganze verdammte System?“ – „Das muss jeder für sich entscheiden.“ – „Und wenn ihr singt: Unsere Leidenschaft ist ihnen rätselhaft?“ – „Das ist jetzt ein bisschen kompliziert.“ Sie blieben herzlich und sehr, sehr geduldig. Sie sagten, dass ein Songtext manchmal an Kraft verliere, wenn man ihn erkläre. Auch ein Protestsong. Ich glaube bis heute, sie haben damals das ganze verdammte System angeprangert. Das Interview war Schrott. Die Passage zu „Sie wollen uns erzählen“ wurde mir vom Chefredakteur komplett rausgestrichen. Andererseits: Ich habe mit Tocotronic Yogi-Tee getrunken. Ihr habt sie nur live gesehen. Sebastian Leber
„Aber hier leben, nein danke“ (2005)
Ich war nervös, als 2005 das siebte Tocotronic-Album „Pure Vernunft darf niemals siegen“ herauskam. Die Band schien mir in einer schwierigen Umbruchphase zu stecken: Erwachsenwerden und so, elektronische Experimente, ein neuer Gitarrist. Auch das Coverbild mit den vier Musikern im Wald machte mich eher skeptisch als neugierig. Doch als ich die CD dann einlegte, fegten Tocotronic jeglichen Zweifel schon mit dem Eröffnungsstück „Aber hier leben, nein danke“ vom Tisch. Was für ein Hit! Was für eine geniale Titelzeile! Was für eine tolle Band! Über zwei Schrammelgitarren und Stolperschlagzeug skandiert Dirk von Lowtzow mit einer irren Bissigkeit seinen Text über Tiere nachts im Wald, Wolken, Wind und den flammend grüßenden Wahnsinn. Wegen der Naturlyrik habe ich das Lied damals für eine Absage ans Landleben gehalten. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher. Man kann da viel hineinlesen. Auch in der Musik steckt mehr, als man beim ersten Hören meint. Man beachte nur die feinen Bridges vor den Refrains und das tolle Break danach oder die noisige Abfahrt in der letzten Minute. Mit „Aber hier leben, nein danke“ haben Tocotronic ein großes Versprechen gegeben, dass sie mit jeder Platte seither eingelöst haben – auch dank des damals dazugekommenen Gitarristen und Keyboarders Rick McPhail. Ich bin nie wieder nervös geworden, wenn ein neues Album anstand. Nadine Lange
„Kapitulation“ (2007)
Und wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lied daher. In diesem Fall der Polter-Offbeat von Arne Zanks Schlagzeug, Rick McPhails singende E-Gitarre, der Bum-Bum-Bass von Jan Müller, ein Krachungeheuer mit Monstermelodie, in das dann Dirk von Lowtzow gespreizt hineinmurmelt: „Und wenn du kurz davor bist / kurz vor dem Fall / und wenn du denkst / Fuck it all! / Und wenn du nicht weißt / wie soll es weitergehen / Kapitulation!“ Es ist kurz nach zehn, noch so früh, aber schon alles zu spät: das Aufstehen, Anziehen, Frühstücken, Duschen, Zähneputzen, die tagtägliche Eigernordwandbesteigung des In-die- Pötte-Kommens. Das Kind ins Auto gesetzt und zum Kinderladen gefahren durch die Morgenhölle des Berufsverkehrs am Columbiadamm. „Und wenn du denkst / Alles ist zum Speien! / Und so wie du jetzt bist / willst du überhaupt nicht sein / Wenn du dir sicher bist / Niemand kann dich je verstehen: / Kapitulation!“ Vor dem Kinderladen tritt das Kind in einen Hundehaufen, ich pule das Zeug mit einem Stock und einem Tempotuch aus den Rillen der Profilsohle. Fuck. Neukölln ist Selbstmord. Wie soll es denn nun weitergehen? Stop- and-go am Kottbusser Damm, ich muss zur Arbeit und bin gefangen in Blech, Abgasen und schlechter Laune. Nur Dirk von Lowtzow kennt die Lösung, ich fahre rechts ran, drehe das Autoradio lauter und singe Silbe für Silbe mit: „Ka-pi-tu-la-tion – Ohohoh!“ Ich gebe mich geschlagen. Aber ich habe wenigstens gekämpft. Christian Schröder
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