Twittertrend #dichterdran: Wie sexistisch ist Literaturkritik?
Literaturkritik wird meist von Männern verfasst. Das wird mitunter recht sexistisch. Jetzt haben Twitterinnen das umgedreht - und einen Trend gesetzt.
„Mehr als Vermutungen bleiben uns kaum über die Rotblonde mit dem nach Sahra Wagenknecht gewalttätigsten Lidstrich Deutschlands.“ Das ist ein Auszug einer Literaturkritik, geschrieben von einem Mann. Gemeint mit der „Rotblonden“ ist die für ihre Romane und Theaterstücke bekannte Sibylle Berg. Reduziert werden auf Äußerlichkeiten, auf Dinge, die mit dem Schreiben nichts zu tun haben - das ist Alltag vieler Schriftstellerinnen. Unter dem Hashtag #dichterdran haben Twitter-Nutzerinnen den Spieß umgedreht. Auch Sibylle Berg machte mit, schrieb: "walser,der heute als erfinder der statement braue bekannt ist, verfasste nach der geburt seiner 5 Kinder erotische Werke, in denen er vornehmlich den Verlust seiner jugendlichen libido betrauerte und mit denen er dem einfachen mann seiner generation eine stimme gab."
Die Idee hinter dem Hashtag: Über Autoren so schreiben, wie Männer über Autorinnen schreiben – eben so wie in der Kritik über Berg: Es wird das Geschlecht des Autors besprochen. Außer Berg schrieben in dieser Woche so viele Autorinnen und Frauen #dichterdran-Tweets, dass der Hashtag nach zwei Tagen trendete.
Die Digitalverlegerin Christiane Frohmann findet die Debatte so bedeutsam, dass sie auf Twitter spontan die Idee äußerte, die Tweets zu verlegen. Das würde auch zu ihrem Programm passen, das sich schwerpunktmäßig mit Literatur beschäftigte, die im Digitalen entsteht. So wie die Reihe Kleine Formen, „in der überwiegend auf Twitter geschriebene, besonders literarische Kürzesttexte erscheinen“, sagt sie. Für die Kommentare empörter Männer, die bei #dichterdran nicht ausblieben, gebe es dann einen extra Anhang.
Frohmann sagt, sie sei „umgeben von hochqualifizierten Verlegerinnen, Autorinnen, Literaturwissenschaftlerinnen, die im Betrieb unverhältnismäßig oft nicht die Rolle spielen, die sie verdienen und von denen jede Einzelne bei ihrer Arbeit strukturellen Sexismus erlebt“.
Wie groß das Problem ist, belegen folgende Zahlen: Rezensionen werden mehrheitlich von Männern geschrieben. Im Jahr 2018 konnten von 3420 Belletristik-Rezensionen „2255 männliche und 1109 weibliche KritikerInnen ermittelt werden“, schreibt Veronika Schuchter auf literaturkritik.de.
Die promovierte Germanistin forscht zum Thema „Gender in der Literaturkritik“. Dabei untersucht sie nicht nur die Geschlechterverteilung der Kritikerinnen und Kritiker, sondern auch die der besprochenen Autorinnen oder Autoren. Ergebnis: Über Autorinnen werden etwa zwei Drittel weniger Rezensionen geschrieben als über Autoren. Das bestätigt auch Verlegerin Frohmann: „Bei Autorinnen wird eher die Frau in Interview- oder Porträtform besprochen, Autoren bekommen mehr Rezensionen.“ Rezensionen aber brächten mehr Verkäufe und Bekanntheit, die Autoren haben folglich bessere Chancen auf dem umkämpften Buchmarkt.
Der Auslöser für den #dichterdran-Trend klingt folgendermaßen: "Auf den Fotos „des ‚New Yorker’ sieht die Autorin aus wie ein aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen (...)“. Das Zitat ist ein Auszug einer Kritik im Schweizer Tagesanzeiger über die 28-jährige Sally Rooney. Rooneys Roman „Gespräche mit Freunden“ wurde vor Kurzem ins Deutsche übersetzt, in Irland und Großbritannien hat sie zahlreiche Preise gewonnen.
Mit Rezensionen Werke der Literatur bewerten und einordnen – so deutet die Plattform literaturkritik.de der Philipps-Universität Marburg den Sinn von Literaturkritik. Über das Aussehen von Autorinnen zu schreiben, steht da nicht.
„Dermaßen peinlich“, findet auch die Journalistin Nadia Brügger den Text des Tagesanzeiger-Journalisten. Gemeinsam mit Simone Meier und Güzin Kar initiierte sie #dichterdran – die sich über einen Twittertrend hinaus zu einer kritischen Welle gegen die sexualisierte Literaturkritik entwickelt.
Doch es gibt simple Lösungen, von einer Geschlechter- hin zu einer vielfältigen Literaturkritik zu kommen: Literaturkritiker, die sachlich und reflektiert über Werke von Autorinnen schreiben - und: mehr Literaturkritikerinnen.
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