Jim Jarmusch im Gespräch: „Wie schön, diese Windschutzscheiben-Perspektive!“
„Paterson“-Regisseur Jim Jarmusch spricht im Interview über Tai-Chi, Schwarz-Weiß-Mobiles – und darüber, warum er in Filmen die Poesie des Alltäglichen feiert.
Ein Busfahrer als Filmheld: Wie kam es denn dazu?
Meine Hauptfigur sollte ein Working Class-Poet sein, an dem Bilder, Informationen und Gespräche vorbeidriften, während er seiner Arbeitsroutine nachgeht. Ein Fabrikjob kam dafür nicht infrage. Auch bei einem Taxifahrer steigen immer nur ein oder zwei Menschen ein, und der Raum ist beengt. Mein Protagonist sollte während der Arbeit die Welt in sich aufnehmen.
Die immer selbe Strecke per Bus: Poesie geht anders, möchte man meinen.
Ganz anders als in einem Auto gleitet man hinter dem Steuer eines Busses erhöht über die Straße. Man kann die Menschen beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Im Bus auch gehen die Menschen rein und raus. Es liegt eine besondere Schönheit in dieser Sicht auf die Welt. Wir haben eine Woche lang im Bus gedreht, und ich habe mich jeden Tag gefreut, das Leben aus der Windschutzscheibenperspektive zu filmen. Obwohl ich um 5 Uhr morgens aufstehen musste – eine echte Herausforderung für eine Nachteule wie mich.
„Paterson“ erzählt auch vom Verhältnis zwischen Kreativität und Routine. Wie viel Routine brauchen Sie, um kreativ zu sein?
Ich versuche, Routine zu vermeiden. Ich bin am kreativsten, wenn ich keinen Plan habe – wenn ich morgens aufwache und wenn da nichts ist, das mir vorschreibt, was ich tun soll. Innerhalb dieser Freiheit aber halte ich gewisse Routinen ein, die mir helfen, mich zu regenerieren. Ich mache an fünf Tagen in der Woche jeweils 45 Minuten lang Tai-Chi. Das öffnet meine Kanäle und macht mich aufnahmefähiger. Außerdem versuche ich, jeden Tag eine Stunde Musik zu machen, und wenn ich auf dem Land bin, eine Stunde spazieren zu gehen.
Ihr Held Paterson zieht seine Kraft dagegen gerade aus der Routine des Alltags.
Als Dichter braucht Paterson besondere Antennen und einen Ort, an dem er die Welt in sich aufnehmen kann. Für ihn als Busfahrer ist die tägliche Routine befreiend. Er muss nicht darüber nachdenken, welche Termine er hat oder was er heute anzieht. Nichts lenkt ihn ab. Sogar die Plätze, an denen er schreibt, sind immer dieselben.
Seine Frau ist extrovertiert. Sind die beiden ein Yin-und-Yang-Paar?
Auf jeden Fall. Laura hat immer neue Projekte im Kopf, sie ist voller Ideen, steht ständig unter Strom. Sie geht aus sich heraus, während Paterson in sich geht. Wir sehen sie nur eine Woche lang – stellen Sie sich mal vor, was diese Frau in einem Monat alles anstellt!
Der Alltag gilt oft als Feind der Liebe. In „Paterson“ festigt er sie eher.
Routine muss nicht zwingend einer erfüllten Liebe zwischen zwei Menschen entgegenstehen. Liebe wird getragen und beschützt von der Fähigkeit, sich gegenseitig zu akzeptieren, statt zu versuchen, den anderen nach den eigenen Vorstellungen zu formen. Die beiden haben auch ihre Meinungsverschiedenheiten, aber sie lieben einander, so wie sie sind.
Laura dekoriert ihr Haus fast komplett mit Schwarz-Weiß-Mustern. Sie hatten selber ja eine ausgedehnte Schwarz-Weiß-Phase. Nehmen Sie sich da selber ein wenig auf den Arm?
Nicht bewusst. Ich fand diesen Fimmel von Laura einfach cool. Aber es hat auch einen anderen Grund: Wenn man Neugeborenen ein Schwarz-Weiß-Mobile übers Bett hängt, können Sie die eigene Sehfähigkeit besser entwickeln. Sie können Farben noch nicht unterscheiden, nehmen aber den Kontrast zwischen Schwarz und Weiß wahr. Immer wenn jemand aus meinem Freundeskreis ein Baby bekommt, schenke ich ihnen so ein Mobile, und die Kinder lieben sie.
"Paterson" ist sehr undramatisch. Ein Bekenntnis zur narrativen Entschleunigung?
Mich ermüden Filme, in denen alles ein Problem darstellt und die Menschen sich gegenseitig verletzen. Natürlich sind da auch ein paar gute und wichtige dabei. Aber es ist genauso wichtig, dass heute Filme gemacht werden, wie Yasujiro Ozu sie gedreht hat – ruhigere Filme, die die Poesie des Alltäglichen feiern.
Wo sehen Sie sich als Regisseur heute?
Meine Liebe gehört dem Kino als Form, und das hat sich in all den Jahren nicht geändert. Auch nicht die Art, wie ich Filme mache. Wohl aber werden sie heute vollkommen anders finanziert und aufgenommen. Die meisten Leute sehen Filme heute als Stream und nicht auf der Kinoleinwand. Aber das liegt außerhalb meiner Kontrolle, also rege ich mich darüber nicht auf.
„Paterson“ zeigt auch, wie Inspiration funktioniert, wie ein Eindruck in Poesie verwandelt wird. Wie lassen Sie sich in Ihrer Arbeit inspirieren?
Schwierige Frage. Meine Inspirationen kommen von überall her: aus dem Alltag, aus Dingen, die ich gehört, gelesen oder gesehen habe. Aus der Musik, der Form einer Wolke, einer Erinnerung oder einem Traum. Alles, was mich bewegt, versuche ich festzuhalten. Ich habe immer ein Notizbuch bei mir, in dem ich diese Dinge sammle, ohne zu wissen, was ich damit einmal machen werde. Sie sagen mir später schon, was ich mit ihnen anstellen soll. Ich vertraue ihnen mehr als mir selber, und das hat bisher ganz gut funktioniert.
Die Gedichte in „Paterson“: Wurden sie extra für den Film geschrieben?
Beim Drehbuchschreiben wusste ich schon, dass ich Gedichte von Ron Padgett verwenden wollte. Wir sind befreundet, und ich liebe seine Gedichte sehr. Einige hat er speziell für den Film verfasst. Er gehört zur „New York School“ wie auch Frank O’Hara, John Ashbery und David Shapiro. Ihre Gedichte nehmen sich selbst nicht so ernst. Sie feiern die kleinen Dinge. Jedes Gedicht wird immer nur für eine bestimmte Person und nicht für die ganze Welt geschrieben.
Leben wir in einer Zeit, der der Sinn für Poesie verloren gegangen ist?
Die Poesie ist immer noch da und steckt in vielem. Aber wir leben in einer Zeit der Gehirnwäsche und in einer Welt, die von Konzernen kontrolliert wird. Wir wollen nicht wahrhaben, wie heikel unsere Lage ist und flüchten uns in den Konsum. Das verstört mich sehr. Ich sorge mich sehr im die Zukunft, aber ich versuche, den Moment zu genießen.
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