Kultur: Architektur der Gefühle
Zum 100. Geburtstag des japanischen Klassikers: Ozu-Werkschau im Berliner Arsenal
Wenn man ein Team von Script-Doktoren an eines der späten Drehbücher von Yasujiro Ozu setzen würde, müssten diese wohl ein paar Sonderschichten einlegen. Kein „plot point“, nicht mal ein richtiger Held, geschweige denn dessen Odyssee. Höchstens die zahlreichen Ablösungkämpfe zwischen Töchtern und Eltern ließen sich vielleicht mit den ödipal ausgerichteten Drehbuchmustern westlicher Prägung in Deckung bringen: Doch Ozus Filme bewegen sich in architektonisch organisierten Parallelbewegungen um die emotionalen Höhepunkte herum, anstatt sie dramaturgisch zu durchdringen. Wenn in „Banshun“ die Tochter (Setsuko Hara) bei einer Theater-Aufführung mit heftigem Mienenspiel ihre Eifersucht auf die vermeintliche Rivalin um die Gunst des Vaters zum Ausdruck bringt, ist das für Ozu schon fast ein emotionaler Exzess.
Viel Kluges, viel Schönes ist über Ozu geschrieben worden (einiges davon versammelt das neue Kinematheks-Heft). Immer wieder geht es dabei um die filmästhetischen Eigenheiten des japanischen Klassikers, um den sozialen Realismus seiner frühen Filme und den artistischen Minimalismus des Spätwerks, das um das Familienleben des Mittelstands kreist. Hier hatte Ozu seine ästhetischen Mittel bereits perfektioniert: die unbewegte niedrige Kameraposition, die in gemessenem Abstand die Darsteller frontal erfasst – und die Zwischenschnitte, die Ozus Bildersprache mit ein paar Wäschestücken oder einem Herbstwald Satzzeichen und Rhythmus hinzufügen.
Am 12. Dezember 1903 wurde Yasujiro Ozu als Sohn wohlhabender Kaufleute in Tokio geboren. Er starb genau 60 Jahre später, am Abend seines Geburtstags. Und man möchte sich vorstellen, dass er friedlich im Sake-Rausch dahinschied, nach einem jener erinnerungsschwangeren Trinkgelage, die seine Filme als wiederkehrendes Element durchziehen. Denn Yasujiro Ozu war ein begnadeter Trinker, und auch ein Spezialist der Serie. Es gibt wohl kaum einen Regisseur, dessen Werk so sehr vom Prinzip der variierenden Wiederholung geprägt ist. Besonders seine späten Arbeiten erzählen immer wieder mit fast gleichem Personal auf fast gleiche Weise die fast gleiche Geschichte; von Töchtern im heiratsfähigen Alter, Kupplern und Kupplerinnen, Witwern und Ehefrauen. Das Bürogebäude von „Higanbana“ (Sonnenwendblume, 1958) taucht in „Akibiyori“ (Spätherbst, 1960) wieder auf , ebenso die Barstraßen und Teehäuser, Wohnzimmer und Wochenendausflüge. Filme nach dem Baukasten-Prinzip.
Seit seinem ersten Film 1928 arbeitete Ozu mit dem Autor Kogo Noda zusammen. Auch die Schauspieler begleiteten ihn über die Jahre hinweg und sind mit den Filmen älter geworden. Der bekannteste, Chishu Ryu, debütierte 1929 in einer Nebenrolle als Student. 1962, am Ende von Ozus letzten Film „Samma No Aji“ (Der Geschmack von Makrelen) kehrt er als alter Mann nach der Heirat der Tochter in sein leeres Haus zurück. Ozus Lieblingsschauspielerin Setsuko Hara wechselte 1960 von der Tochter- in die Witwenrolle. Drei Jahre nach dem Tod des Regisseurs legte auch sie die Arbeit für immer.
Man hat Yasujiro Ozu gerne und oft als Chronisten der japanischen Familie bezeichnet. Doch zwischen den Geschichten um brave oder aufmüpfige Töchter und starrsinnige oder sanfte Väter findet sich ebenso beharrlich ein Sujet, das ihn nach der Abwendung von den sozialkritischen Stoffen am intensivsten beschäftigt hat: die Fügung ins Unvermeidliche der natürlichen Lebensabläufe. Der Abschied ist Ozus großes Thema, nicht nur der letzten Lebensdekade. Abschied von der Kindheit, von Illusionen, von geliebten Personen, vom Leben selbst. Manchmal taucht der Tod direkt in Ozus Filmen auf, präsent ist er immer, in einer Stimmung resignierter Melancholie. Die Methode ist Reduktion, scheinbare Einfachheit, mit größter Kunst verfertigt: So wurden allein für einige kurze Landschaftsaufnahmen in „Tokio Monogatari“ (Die Reise nach Tokio) 15 Beleuchter bemüht.
Trotz aller kulturellen Differenzen ist Ozus Werk mit seiner klaren Filmsprache universell verständlich. Weil seine Filme so gegenwärtig von Zeit sprechen, scheinen sie im Abstand der Jahrzehnte an Kraft nur zu gewinnen. Gerade weil sie sich so ähneln, möchte – ja, muss man eigentlich alle sehen, und das immer wieder. Fünf Jahre nach der letzten Ozu-Werkschau im damals noch alten Arsenal werden jetzt im neuen Haus alle 35 erhaltenen Filme des Meisters in einer umfassende „Retrospektive der Berlinale“ vorgestellt. Gezeigt werden neue, englisch untertitelte Kopien, die seine langjährige Produktionsfirma Shochiku zu seinem 100. Geburtstag dieses Jahr anfertigen ließ.
Ozu war übrigens nie verheiratet. Er lebte bei seiner Mutter. Sie starb ein Jahr vor ihm.
Kino Arsenal, bis 31.3. Ozu-Broschüre der Freunde der Deutschen Kinemathek 12 €
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