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Alltäglicher Antisemitismus: Eine Szene aus „Der Araber von morgen“.
© Penguin

Die Erfolgsgeschichte von „Der Araber von morgen“: Wie Riad Sattouf zum Bestseller-Zeichner wurde

Riad Sattouf ist mit „Der Araber von morgen“ und „Esthers Tagebücher“ derzeit einer der erfolgreichsten europäischen Comicautoren. Ein Treffen in Paris.

Am Anfang dieser Erfolgsgeschichte steht ein Rückschlag. „Ich hatte zwei Filme gedreht – und der zweite war ein totaler Misserfolg“, erzählt Riad Sattouf. Der französische Comic-Star sitzt an einem Tisch in der Bibliothek des Centre Pompidou in Paris, wo ihm kürzlich eine Ausstellung gewidmet war.

„Jacky im Königreich der Frauen“ hieß der Film damals auf Deutsch, es war eine Satire über eine Gesellschaft, in der die Geschlechterrollen vertauscht sind, die Männer sich verschleiern und den Frauen dienen müssen. Nachdem die Kritiken dazu im Vergleich zu Sattoufs vielgelobtem Vorgängerfilm, der Teenager-Komödie „Jungs bleiben Jungs“ tatsächlich nicht sehr vorteilhaft waren, fiel der Autor erst mal in ein Loch. Gut fünf Jahre ist das jetzt her. „Danach“, sagt er, „hatte ich viel Zeit, also wandte ich mich wieder dem zu, was ich am liebsten mag: Comics.“

Alltagsbeobachtungen von Jugendlichen

Die hatte der heute 40-jährige Autor vor seiner Hinwendung zum Film bereits mit Erfolg gezeichnet. Seine wöchentliche Serie „La vie secrète des jeunes“ in der Zeitschrift „Charlie Hebdo“, in der er Alltagsbeobachtungen von Jugendlichen in Paris verarbeitete, wurde viel gelobt. Auch die Vorstadt-Macho-Satire „Pascal Brutal“ war in Frankreich sehr populär. Der internationale Durchbruch blieb jedoch aus – bis er sich auf seine eigene Biografie besann und seine Kindheit im Nahen Osten zum Thema machte.

Das Ergebnis, „Der Araber von morgen“, ist eine der erfolgreichsten europäischen Comicreihen der Gegenwart. Mehr als zwei Millionen Bücher wurden davon nach Angaben von Sattoufs Verleger bisher verkauft – Zahlen, die man auch im comicaffinen Frankreich sonst eher von Graphic Novels wie Art Spiegelmans „Maus“ oder Marjane Satrapis „Persepolis“ kennt. In mehr als 20 Sprachen wurde die Reihe übersetzt, in dieser Woche ist der vierte Band auf Deutsch erschienen.

„Die Geschichte hatte ich schon lange in mir“, erzählt Riad Sattouf mit sanfter Stimme beim Gespräch im Centre Pompidou. Und dann zeigt er einige Seiten aus dem reich bebilderten Katalog zu seiner Ausstellung: Blätter aus seinem Archiv, auf denen er bereits in den 1990er Jahren autobiografische Szenen festgehalten hat. „Ich war aber noch nicht bereit, das zu einem Buch zu machen.“

Alptraum Pubertät: Eine weitere Szene aus „Der Araber von morgen“.
Alptraum Pubertät: Eine weitere Szene aus „Der Araber von morgen“.
© Penguin

Bis dann 2011 der Bürgerkrieg in Syrien begann. „Wir halfen Verwandten bei der Flucht nach Frankreich, was mit vielen Schwierigkeiten verbunden war.“ Als er das in einem Comic verarbeiten wollte, wurde ihm klar: „Ich muss meine eigene Geschichte von Anfang an erzählen.“

In „Der Araber von morgen“ berichtet Sattouf mit bemerkenswert viel Humor vom oft traumatischen Aufwachsen zwischen zwei Welten. Seine Jugend verbrachte er vor allem in Syrien und anderen arabischen Ländern, unterbrochen von längeren Aufenthalten in Frankreich. Als Kind einer französischen Mutter und eines syrischen Vaters ist der Clash der Kulturen bei Sattouf Alltag.

Ein Cliffhanger sondergleichen

Dazu kommt eine konflikthafte Familienkonstellation: Hier der von sich eingenommene, zunehmend nationalistisch und religiös eifernde Vater, dort die passive, zu Depressionen neigende, westlich orientierte Mutter, die sich im Verlauf der Geschichte gegen ihren herrischen Mann wendet.

Das stellt im aktuellen vierten Band den jungen Ich-Erzähler zunehmend vor Zerreißproben und führt zu einem Familienkonflikt, der diesen Abschnitt der Erzählung mit einem Cliffhanger sondergleichen enden lässt.

Zwischen den Kulturen: Eine Szene aus dem vierten Band von „Der Araber von morgen“
Zwischen den Kulturen: Eine Szene aus dem vierten Band von „Der Araber von morgen“
© Penguin

Neben den alltäglichen Dramen in der Familie des Ich-Erzählers lebt „Der Araber von morgen“ vor allem von den Erinnerungen Sattoufs an seine Schulzeit sowie an die zahlreichen Begegnungen mit Verwandten. Mit präziser Beobachtungsgabe und in leicht karikiert überzeichneten Bildern, die an Sempé erinnern, den Zeichner von „Der kleine Nick“, berichtet Sattouf nicht nur von seinen Schwierigkeiten, sich als damals noch blonder, zarter Junge in der gnadenlosen Schulhof-Hierarchie zu behaupten. Es geht auch um alltägliche Gewalt, Antisemitismus, die Geringschätzung von Frauen, Bigotterie und Engstirnigkeit, die der kleine Riad mit staunenden Augen beobachtet.

Die große Kunst ist, dass der erwachsene Riad Sattouf das auf eine so scharfsinnige, unterhaltsame Weise verarbeitet hat, dass man das Buch trotz mancher schwer zu ertragender Szenen kaum aus der Hand legen mag.

„Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis“

„Mein Ziel war ein Comic, der für viele Leser zugänglich ist, die sonst keine Comics lesen“, sagt Sattouf. „Mir geht es darum, Geschichten zu erzählen, keine Kunstwerke zu schaffen.“ Dafür habe er seinen Stil, der anfangs von den detailreichen Werken des französischen Science- Fiction-Comic-Pioniers Moebius und den aufwendig schraffierten Bildern des US-Undergroundstars Robert Crumb inspiriert war, aufs Wesentliche reduziert. „

Ich wollte einen einfachen Strich, sodass auch meine französische Oma das lesen könnte, die Comics gehasst hat.“ Mit Erfolg: „Bei Veranstaltungen sagen mir viele Besucher, dass es ihr erster Comic war.“

Fortsetzung folgt: Das Cover von Band 4 der Reihe „Der Araber von morgen“.
Fortsetzung folgt: Das Cover von Band 4 der Reihe „Der Araber von morgen“.
© Penguin

Als Quelle seiner Erzählung habe er sich alleine auf seine Erinnerungen verlassen. „Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, vor allem für Visuelles, ich kann mich sogar noch an jedes Detail der Kleidung meiner Eltern erinnern, als ich klein war.“ Auf zusätzliche Interviews mit Verwandten oder Archivrecherchen habe er verzichtet. „Es geht hier nur um meine Interpretation der Ereignisse.“

Die Reaktionen seiner Leser seien dabei „zu 99,9 Prozent positiv“, auch unter arabischstämmigen Lesern. Die stießen sich nicht daran, dass der Autor sehr kritisch auf die muslimische Welt schaue. Im Gegenteil: „Viele Leser sagen mir, das erinnert sie an ihre eigenen Familiengeschichten in Algerien, Marokko oder anderen Ländern – die Art, wie ich Themen wie den Unterschied der Kulturen oder Fragen von Identität behandele, sagt vielen zu.“

Und wie reagieren seine Eltern, seine Brüder und andere Verwandte auf diese Erzählung, die sie größtenteils in einem wenig vorteilhaften Licht erscheinen lässt? „Das verrate ich jetzt doch nicht im Interview“, sagt Sattouf und lacht. „Das werde ich alles in den nächsten Bänden erzählen.“

Mischung aus realer Person und Kunstfigur

Dass Sattouf derzeit nicht nur in Frankreich gefeiert wird wie kaum ein anderer Comiczeichner, hat auch mit einer zweiten Reihe zu tun, die wöchentlich in der linksliberalen Zeitschrift „L’Obs“ erscheint und danach als Sammelband im Albenformat: „Esthers Tagebücher“.

Für diese Reihe, von der im Juni der dritte Band auf Deutsch bei Reprodukt erscheint, hat Sattouf die Grundidee der „Charlie Hebdo“-Serie „La vie secrète des jeunes“, das Leben durch die Augen junger Menschen zu betrachten und diese Beobachtungen mit erwachsener Ironie zu versehen, wieder aufgegriffen. Nur dass diesmal statt wechselnder Figuren ein anfangs zehn Jahre altes Mädchen im Zentrum steht, dessen Alltag Sattouf in jeweils einseitigen Episoden verarbeitet. Dabei geht es neben dem Alltag in Schule und Familie auch um große Themen wie Liebe, Glaube oder Glück.

„Junge Menschen tragen die Zukunft und den Fortschritt in sich – ich liebe es, Geschichten aus ihrer Perspektive zu erzählen“, sagt Sattouf. „Immer, wenn ich irgendwo jungen Leuten begegne, verwickle ich sie in ein Gespräch, weil sie oft noch ganz eigene Gedanken haben.“

Seine Ich-Erzählerin Esther sei dabei allerdings eine Mischung aus realer Person und Kunstfigur. Ein Großteil der Erzählungen basiere auf dem, was ihm die jugendliche Tochter eines Freundes erzähle, mit der er regelmäßig telefoniere.

Das verarbeite er dann zu eigenen Geschichten. „Das Vorbild für Esther würde sich wünschen, dass ich mehr von ihrem echten Alltag erzähle, die sieht viele meiner Geschichten als erfunden an“, sagt Sattouf. Das Wichtigste sei ihm, dass seine Episoden das Gefühl von Authentizität vermitteln, auch wenn sie nicht wirklich die Erlebnisse eines realen Mädchens abbilden.

Die Reihe ist in Frankreich auch unter Jugendlichen beliebt. „Die echte Esther bekam kürzlich das Album von Freunden zum Geburtstag geschenkt“, erzählt Sattouf lachend – „ohne dass die wussten, dass sie die Inspirationsquelle ist.“

Riad Sattouf: Der Araber von morgen, Band 4: Eine Kindheit im Nahen Osten (1987-1992). Aus dem Französischen von Andreas Platthaus, Penguin, 288 S., 26 €

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