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Weiße Fahne. Deutsche Soldaten im August 1944 in Paris, Avenue de l’Opéra.
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Vor 70 Jahren gegen Hitlers Befehl: Wie Paris gerettet wurde

Vor 70 Jahren hätte Paris so enden können wie Warschau, auf Hitlers Befehl völlig zerstört. Doch der deutsche Stadtkommandant widersetzte sich - und kapitulierte. Die Geschichte der wundersamen Rettung einer Stadt.

Im Sommer 1944 ist noch nicht das ganze Frankreich befreit. Noch weht die Trikolore nur im Süden und im Südwesten, im Norden regierte weiterhin das Hakenkreuz. Paris ist auf Befehl Hitlers zur Festung ausgebaut worden. Falls die nicht zu halten ist, soll sie, wie das nahezu zeitgleich im Osten in Warschau geschieht, dem Erdboden gleichgemacht werden. Wenn sich seine Soldaten schon gegen die ihnen weit überlegenen alliierten Streitkräfte nicht behaupten konnten, sollten zumindest die dafür büßen, zu deren Befreiung sie angetreten waren: die Franzosen.

Unter allen Brücken über die Seine waren Sprengladungen angebracht worden, ebenso zum Beispiel im Louvre und in der Universität, am Palais Royal und am Eiffelturm, auf dessen Spitze noch die verhasste Fahne der Nazis wehte. Der letzte Zug mit Todgeweihten verließ das nahe Paris gelegene Sammellager Drancy Richtung Deutschland am 15. August, am Tag danach wurden 35 junge Widerstandskämpfer, die meisten Studenten, im Bois de Boulogne standrechtlich erschossen. Für jeden toten Pariser Bürger, schworen ihre Mitstreiter, wird ein Deutscher sterben müssen. Sie wollen nicht mehr warten, bis sie von Engländern, Amerikanern, Kanadiern und Australiern befreit werden, sie wollen ein Zeichen setzen und sich selbst befreien.

Am 19. August beginnt die kommunistische Résistance-Truppe „Francs-tireurs et partisans“ (FTP) den bewaffneten Aufstand. Ihr Aufruf zum Generalstreik, zehn Tage zuvor, war nicht nur vom Personal der Métro und der Post befolgt worden, sondern sogar von der Mehrheit der Polizei, die noch zwei Jahre zuvor – den Deutschen im antisemitischen Gehorsam vorauseilend – fast 13 000 jüdische Bürger, darunter 4000 Kinder, im Vélodrome d’hiver zusammengetrieben hatte. Fast alle starben später in Auschwitz. Aber auch damals, im Sommer 1942, musste es, wie Serge Klarsfeld in seinem Buch „Vichy Auschwitz“ – bewusst die Begriffe der Nazis im Untertitel benutzend – über die „Endlösung“der Judenfrage in Frankreich schreibt, bereits Hunderte anständig gebliebener Gendarmen gegeben haben, denn auf den Deportationslisten standen mehr als 22 000 ihrer jüdischen Mitbürger. Die fanden sie zwar alle, aber vielen empfahlen sie im Vieraugengespräch die sofortige Flucht in den damals noch nicht besetzten Teil Frankreichs oder das Abtauchen in den Untergrund.

Die Pariser Bevölkerung, obwohl unbewaffnet, schloss sich den Kämpfern an. Baute Barrikaden. Bastelte Molotowcocktails. Versorgte sie mit Lebensmitteln, obwohl sie selbst kaum noch zu essen hatte. In Paris herrschte Hungersnot. Noch tranken die Deutschen Champagner, tanzten auf dem Vulkan, glaubten aber so recht nicht mehr an den Endsieg. General Dietrich von Choltitz, der just an dem Tag in Paris sein Amt als Stadtkommandant angetreten hatte, als am 9. August der Generalstreik begann, reagierte zunächst mit der ihm nachgesagten Härte. Ließ Panzer in den Straßen auffahren. Bereitete die Verteidigung der Stadt gegen Amerikaner und Briten und Franzosen vor, ließ die Bastionen der Aufständischen unter Beschuss nehmen und hoffte doch insgeheim, dass sowohl seinen Truppen als auch der Bevölkerung ein blutiger Häuserkampf erspart bleiben würde. Die Befehle Hitlers aus der Wolfsschanze allerdings waren brutal eindeutig, und die SS-Führer in Paris würden im Zweifelsfall den Wehrmachtsgeneral Choltitz eher verhaften, als ihm zu gehorchen. Paris sollte brennen, falls sich die deutschen Besatzer vor den anrückenden Alliierten zurückziehen mussten.

Die den Stadtkommandanten bedrängenden Fragen aus der Wolfsschanze, wann endlich mit den Sprengungen begonnen werde, beantwortete er mit bestehenden logistischen Problemen. Choltitz wusste aber, lange würde er nicht mehr so taktieren können. Das Schicksal seines Vorgängers im Amt, General Carl Heinrich von Stülpnagel, der sich wegen Teilnahme an der Verschwörung des 20. Juli gegen Hitler vor dem Volksgerichtshof verantworten musste, würde auch ihm bevorstehen, falls er den Befehlen nicht folgte – Todesurteil, Hinrichtung.

Das Alliierte Oberkommando hatte entschieden, die französische Hauptstadt beiderseits zu umgehen, um in den Norden Frankreichs und dann über Belgien ins Herz des Bösen vorstoßen zu können. Unter militärischen Gesichtspunkten betrachtet, schien dies die richtige Taktik. Für die Verteidigung von Paris waren bereits zwei SS-Panzerdivisionen in Marsch gesetzt worden; auch denen wollte der General (und spätere amerikanische Präsident) Dwight D. Eisenhower durch seine Umgehungstaktik ausweichen, seinen Vormarsch auf die deutsche Grenze nicht gefährden, um den Krieg direkt im Land des Feindes zu beenden. Die Regierungen in Washington oder London scheuten vor der Verantwortung zurück, die nach einer möglichen Eroberung der französischen Hauptstadt auf ihnen lasten würde: Nach der Einnahme von Paris wären sie verpflichtet gewesen, die Versorgung von Millionen von Einwohnern zu übernehmen.

Nein, Paris brannte nicht.

Nach der Kapitulation. Der deutsche Stadtkommandant Dietrich von Cholditz (links im Wagen) und der französische General Philippe Leclerc (vorn).
Nach der Kapitulation. Der deutsche Stadtkommandant Dietrich von Cholditz (links im Wagen) und der französische General Philippe Leclerc (vorn).
© picture alliance / dpa

Wie es Charles de Gaulle gelang, die widerspenstigen Verbündeten auszutricksen, indem er insgeheim über Nacht seine an der Seite der Alliierten kämpfenden Forces françaises libres unter General Philippe Leclerc in Richtung Hauptstadt marschieren ließ und damit Briten und Amerikaner moralisch unter Zugzwang setzte, ihre Strategie zu ändern und den Franzosen zu helfen, ist eine legendäre gute Geschichte – ausgezeichnet recherchiert und spannend erzählt in einem Buch, das ebenfalls legendär geworden ist: „Brennt Paris?“ von Larry Collins und Dominique Lapierre. Und Ende dieses Monats, kurz nach dem 70. Jahrestag der Befreiung von Paris, kommt Volker Schlöndorffs Spielfilm „Diplomatie“ ins Kino, der ebenfalls die historischen Umstände dieser Rettungstat beleuchtet – mit dem dänischen Schauspieler Niels Arestrup als General Dietrich von Choltitz. In weiteren Rollen sind unter anderem Burghart Klaußner und Robert Stadlober zu sehen.

Nein, Paris brannte nicht. Und das war am Ende ausgerechnet einem deutschen Nazigeneral zu verdanken, eben jenem Dietrich von Choltitz. Auf seinem Schreibtisch lag zwar Hitlers strikter Befehl, Paris entweder zu halten oder vor einem doch erforderlichen Rückzug dem Erdboden gleich zu machen: „Innerhalb der Stadt muss gegen Anzeichen von Aufruhr mit schärfsten Mitteln eingeschritten werden, z. B. Sprengung von Häuserblocks, öffentliche Exekutierung der Rädelsführer, Evakuierung des betroffenen Stadtteils ... Die Seinebrücken sind zur Sprengung vorzubereiten. Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen.“ Außerdem hatte Hitler sogar angeordnet, die letzten V1-Raketen auf Paris abzufeuern und alle verfügbaren Luftstreitkräfte einzusetzen, falls die Sprengungen nicht ausreichen sollten, die Stadt in Trümmern zu hinterlassen.

Insgeheim verhandelte Choltitz mit Vertrauensleuten der Résistance. Der schwedische Generalkonsul Raoul Nordling – André Dussollier spielt ihn in Schlöndorffs Film – diente als Mittelsmann, als Mediator, gewann das Vertrauen beider Seiten. Zwischen der Pflicht als Offizier, der einen Eid auf den Führer geschworen hatte, den zu erfüllen er trotz aller Bedenken bereit war, wie er immer wieder betonte, und der schrecklichen Vorstellung, dann verantwortlich zu sein für die Zerstörung eines unvergleichlichen architektonischen und kulturellen Erbes, fand jedoch Choltitz eine salomonisch zu nennende Lösung. Via Nordling bestellte er bei den Gegnern ein die Stadt und damit auch ihn rettendes Ultimatum, in dem er aufgefordert wurde, aufgrund der Übermacht die weiße Fahne zu hissen – selbstverständlich so formuliert, dass er es, ohne seinen Eid zu verletzen, annehmen konnte und den Umständen gehorchend kapitulieren musste, um das Leben seiner Soldaten zu schonen.

Choltitz übergab am 25. August 1944 das fast unzerstörte Paris – während der zurückliegenden zwei Wochen waren bei den Straßenkämpfen noch Tausende gefallen, Deutsche wie Franzosen – den Befreiern und begab sich in englische Kriegsgefangenschaft. Nach zwei Jahren wurde er entlassen. 1966 starb er in Baden-Baden. An der Beerdigung nahmen hohe französische Offiziere teil und erwiesen dem „Retter von Paris“ die letzte Ehre.

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