Digitaler Klassikmarkt wächst: Wie Klassik-Apps das Musikhören verändern
Streamingdienste wie Idagio bieten nicht nur mehr Komfort. Sie eröffnen neue Wege, um Musik zu teilen - und erweitern im besten Fall den Horizont.
Heute schon Klassik gehört? Dann gehören Sie keineswegs einer verschwindenden Minderheit an. Ein Drittel aller Musikhörer führt sich nämlich auch Klassik zu Gemüte. Was an ihrer Verfügbarkeit liegt: Dank Youtube, Spotify und Co. ist jedes Smartphone längst eine gigantische Musikbibliothek. Nie war die Schwelle zur hohen Kunst der Töne so niedrig.
Trotzdem, klar, es handelt es sich um eine Marktnische, spätestens beim Streamen. Weltweit zahlen 300 Millionen Menschen für Audiostreaming, das Klassiksegment beträgt fünf Prozent – wie früher in der Schallplattenindustrie.
Aber so wie die Gesamterlöse steil nach oben gehen – Spotify meldete gerade eine Umsatzsteigerung von 28 Prozent und ein Plus bei den Bezahlabos von 87 auf 113 Millionen –, so steigt auch die Zahl der Klassikkunden. Zurzeit sind es 15 Millionen weltweit.
Laut einer aktuellen Studie wird die meiste klassische Musik zwar nach wie vor im Radio (40 Prozent) und auf CD (35 Prozent) gehört. Streamingdienste folgen mit 21 Prozent in den Gratis- und mit 14 Prozent in den Bezahlversionen.
Aber von den Gesamteinnahmen des Klassikmarkts in Höhe von 384 Millionen Dollar 2018 generierten die Streamingdienste bereits 37 Prozent – Tendenz weiter steigend. Mit regionalen Unterschieden: Während die CD-Käufe in den USA drastisch geschrumpft sind, sind sie in Deutschland und Japan noch relevant. Weil hier die meisten Klassikfans leben – die etwas langsamer ticken als Hip-Hop-Hörer. Schon weil sie älter sind, im Schnitt 45.
Technologie ist eine Riesenchance
Sicher ist trotzdem: Auch der digitale Klassikmarkt wächst. „Klassikstreaming ist erst am Anfang“, sagt Till Janczukowicz, Mitgründer und Geschäftsführer von Idagio, einem von zwei reinen Klassikdiensten neben dem 2018 gestarteten amerikanisch-niederländischen Primephonic.
Nach über 20 Jahren als Produzent und Manager von Künstlern wie Christian Thielemann, Seiji Ozawa oder Ivo Pogorelich wurde Janczukowicz klar, „dass die Klassik bei der Technologie in der Steinzeit steckt. Das Einzige, was wir nutzen, sind bessere Mikrofone und andere Kanäle. Aber die Technologie ist eine Riesenchance.“
Eben wegen des global erleichterten Zugangs. Also rief er mit Christoph Lange 2016 Idagio als Start-up ins Leben.
Wie fast alle Streamer veröffentlicht das Portal seine Abonnentenzahl nicht, zählt aber 1,6 Millionen App-Downloads und Nutzer in 190 Ländern. Ein Viertel der Kunden zahlt den höheren Monatspreis für bessere Soundqualität, seit 12. November gibt es zusätzlich eine Gratis-App für Klassik zum Kennenlernen.
Ein schwieriger Markt
Weltweit wird Klassik mit Zentraleuropa und besonders mit Deutschland assoziiert. Kein Zufall also, dass Idagio ausgerechnet im Land von Bach und Beethoven seinen Sitz hat, in Berlin-Kreuzberg am Tempelhofer Ufer. Und zudem in der Stadt mit der wohl höchsten Orchester- und Klassikensemble-Dichte überhaupt.
Rund 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zählt Idagio, Programmentwickler, Editoren, Kuratoren, Musikwissenschaftler und Marketingleute. Dabei ist die Crux für Idagio wie für Primephonic zum einen die Frage, wie man die Nische monetarisiert und eine kritische, sprich: profitträchtige Masse an Nutzern anlockt.
Daran scheiterte gerade erst Grammofy. Das anspruchsvolle, sympathische Klassikportal war 2014 mit Schwung gestartet und 2018 unter das Dach von Spotify geschlüpft – vergeblich. Zum 31. Oktober schloss Grammofy seine virtuellen Pforten, bei nur (noch) 2000 regelmäßigen Hörern.
Idagio dagegen kann sich Zeit lassen, mit geduldigen Investoren und einem Venture-Kapital von inzwischen 20 Millionen Euro.
Alles in einem Packet
Die andere Crux ist die Sache mit den Metadaten. Wer Klassik beim Kochen oder Joggen oder im Auto hört, wer sich am Wochenende auch schon mal eine komplette Symphonie reinzieht und Interpretationsvergleiche anstellen will – ein Traum: Mahlers Erste gibt es bei Idagio wie bei Primephonic in mehr als 100 Aufnahmen –, will intelligent kuratierte Playlists und eine große Bibliothek.
Content complete, sagt Janczukowicz, das ist entscheidend.
Zweitens muss die Suche verlässlich zum Ziel führen, ob man nun nach „Mahlers 1. Sinfonie“ sucht oder nach „Mahler Symphony No. 1“, ob man „Schostakowitsch“ oder „Shostakovich“ eingibt. Egal, ob man sich mal vertippt und egal, ob man weiß, dass es sich beim „Walkürenritt“ um das Vorspiel zum dritten Akt von Wagners „Walküre“ handelt.
Klassische Streamingdienste sind mit der Vielfalt überfordert
Die großen Streamingdienste von Spotify (30 Millionen Tracks) über Apple Music (50 Millionen) bis Tidal (60 Millionen) sind da überfordert. Weil ihre Suchfunktionen der Poplogik gehorchen, ebenso der Abrechnungsmodus.
Ein Track, das bedeutet Titel und Interpret, Punktum. Die Vielfalt von Komponist, Werktitel, Einzelsätzen, Dirigent, Orchester, Ensemble und/oder Solisten verlangt andere Algorithmen und Filter.
Ganz zu schweigen von unterschiedlichen Schreibweisen. Nicht dass die 3000 Entwickler bei Spotify solche Programme nicht erstellen könnten. Aber an der vergleichsweise kleinen Klassikkundschaft sind die Hauptplayer im Streaminggeschäft nicht sonderlich interessiert.
Auch der Abrechnungsmodus benachteiligt bei den Großen die Klassik mit Satzlängen von gern mal einer Stunde. Deshalb rechnen die Klassik-Apps nicht per Klick ab, sondern pro Sekunde. Und wer bei Idagio einen Monat lang nur die Wiener Philharmoniker hört, dessen Monatsausschüttung kommt ausschließlich den Wienern zugute.
Gutes Klassikstreaming erweitert den Horizont
Wie klingt eigentlich diese neue junge Pianistin? Kann ich die unendliche Melodie in Wagner-Opern auch ohne Pause zwischen den Tracks hören?
Clara Schumann hat Geburtstag, was hat sie außer Klavierwerken komponiert? Und hört man bei Igor Levits Beethoven-Interpretation eigentlich, dass er mit den Sonaten-Einspielungen von Artur Schnabel und Friedrich Gulda aufgewachsen ist?
Gutes Klassikstreaming sorgt bei solchen Fragen für mehr Bedienkomfort als der Track samt Bewegtbild bei Youtube. Und es verengt nicht, sondern erweitert den Horizont.
„Auch wenn wir neun Monate Stockhausen featuren, ändert das nichts am Beliebtheitsgrad von Mozart“, schränkt Till Janczukowicz ein.
Portal kann für Aufmerksamkeit und Reichweite sorgen
Je mehr Algorithmen den Suchvorgang optimieren, desto geringer die Zahl der Zufallsfunde. Deshalb werden bei Idagio und Primephonic neben den big names von Bach bis Verdi auch Archivraritäten präsentiert und bei den gefälligeren Playlists für die Teatime oder die Herbststimmung bekannte mit weniger bekannten Werken gemischt.
Primephonic stellt Playlists zu vergessenen Komponisten oder zu Halloween mit höllisch gruseligen „Dies Irae“-Vertonungen zusammen. Idagio lässt auch Künstler kuratieren und kooperiert mit Festivals oder Wettbewerben.
Zwar kann das Portal nicht wie ein Label agieren, aber es kann für Aufmerksamkeit und Reichweite sorgen, etwa mit der ersten Studioaufnahme des 20-jährigen Busoni-Wettbewerbssiegers Ivan Krpan.
Bleibt die Qual der Wahl. Nichts gegen Playlisten für den hektischen Alltag, erstellt von Experten, die für Überblick sorgen, auch mal Verrücktes anbieten oder persönlich werden.
Schön, wenn Vikingur Olafsson dem Hörer zu seinem Bach-Recital als Artist in Residence im Konzerthaus seine fünf allerliebsten Stücke des Thomaskantors ans Herz legt.
Hilfe, mir fehlt die Zeit
Alles ist verfügbar, das heißt aber auch: Hilfe, mir fehlt die Zeit. Und wie die eigene Ungeduld zähmen? Wer hört den ersten Akt „Parsifal“ oder Mahlers Dritte Symphonie (je 100 Minuten) noch zu Ende?
Verkommt Klassikgenuss zum Häppchenkonsum, abgesehen vom Livevideo-Luxus eines Berliner-Philharmoniker-Konzerts in der Digital Concert Hall?
Die erwähnte (von Idagio in Auftrag gegebene) unabhängige Studie von Midia Research mit 8000 Befragten aus acht klassikaffinen Ländern fragte auch nach den Gründen fürs Klassikhören.
Auf Platz eins rangiert „Ich mag den Klang“, gefolgt von „gut zum Relaxen“. Elf Prozent der Befragten erklärten, mit Klassik fühlten sie sich gebildeter.
Weshalb auch ein altmodisches, primär für Universitäten und Musik(hoch-)schulen gedachtes Bildungsportal wie die Naxos Music Library seine Berechtigung hat. Weiteren elf Prozent hilft Klassik „zu bestimmen, wer ich bin“. Wer brächte dafür nicht etwas Geduld auf.