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Leipzig, 16. Oktober 1989. Und die Kamera wird freudig begüßt: Szene aus "Leipzig im Herbst".
© Kroske

Leipzig im Herbst ’89: Wie Dokumentarfilmer die Wende festhielten - und was ihre Bilder uns heute sagen

Vor 30 Jahren entstanden kurz vor dem Mauerfall in Windeseile einige Defa- und Studenten-Filme zur Wende. Was erzählen sie uns heute über 1989?

Am Ende des Publikumsgesprächs meldet sich ein Herr hinten im Saal. Am 16. Oktober, als ihr gedreht habt auf der Leipziger Montagsdemonstration, waren wir auch noch da, sagt er. Er war ein junger Soldat, die NVA war am Stadtrand in Bereitschaft, erinnert er sich. „Wäre der Befehl gekommen, hätten wir die Polizei abgelöst, um die Demo niederzuschlagen.“

Die Vergangenheit ist plötzlich ganz nah. Mit dem Datum ist der Mann nicht ganz sicher. Vielleicht war es doch der 9. Oktober ’89, als die Montagsdemo um ein Haar mit Gewalt aufgelöst worden wäre, mit Unterstützung der Armee. Man stelle sich vor, eine Woche nach diesem historischen Wendepunkt in Richtung Mauerfall hätte es in der DDR Tote gegeben – und die Defa hätte es dokumentiert.

Was wäre auf die Eröffnungsszene von Gerd Kroskes und Andreas Voigts Dokumentarfilm „Leipzig im Herbst“ gefolgt, in der sich die Kamera den Weg durch die Menge bahnt und mit Jubel begrüßt wird, als Garant einer neuen Öffentlichkeit und Selbstermächtigungsgeste der Bürger? Nicht mehr Überwachung, sondern Glasnost in der DDR, kurz vor dem Mauerfall: ein urdemokratisches Momentum.

Leipzig im Herbst vor 30 Jahren. Das Potsdamer „Moving History“-Festival zeigte am Wochenende einige der Filme, die vor dem Mauerfall in Windeseile entstanden und unmittelbar danach auf dem Leipziger Dokfilmfestival Premiere feierten. So schnell funktioniert Kino selten, bis heute. Und vor 30 Jahren gab es noch keine Echtzeitmedien, keine Videokameras, keine Handys, kein Facebook. Gedreht wurde auf 16 und 35 Millimeter, während Bürgerrechtler und das Neue Forum Infos über Kontakttelefone weitergaben.

Die Defa und die Filmhochschule hatte drei Drehstäbe losgeschickt, nach Berlin, Leipzig und Dresden, wo die Lage mit am brenzligsten war. Der Grund war ein historisches Versäumnis: 1953, am 17. Juni, durften die Filmemacher nicht auf die Straße. Als sie spontan nach Berlin aufbrechen wollten, wurden sie von Ordnungskräften daran gehindert.

Szene aus Berlin-Doku "10 Tage im Oktober": Filmemacher Thomas Frick spricht mit einem Oberstleutnant , der die Einsätze am 7. und 8. Oktober 1989 leitete.
Szene aus Berlin-Doku "10 Tage im Oktober": Filmemacher Thomas Frick spricht mit einem Oberstleutnant , der die Einsätze am 7. und 8. Oktober 1989 leitete.
© Olaf Kreiß/Festival Moving History

Den Fehler wollte der damalige Hochschulrektor Lothar Bisky nicht noch einmal machen, zumal die Kameras auch bei den Feierlichkeiten und Unruhen am 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober nicht dabei waren. In Berlin hatte die Volkspolizei die Gethsemane-Kirche eingekesselt, die Stasi hatte Demonstranten über den Prenzlauer Berg gejagt, Hunderte waren willkürlich festgenommen worden.

In Dresden und Leipzig geschah Ähnliches. Nun wollten die Filmtrupps die Ereignisse wenigstens im Nachgang festhalten und zogen los, Defa-Dokumentarfilmer genauso wie HFF-Studenten.

Zeugnis abgeben, von übrigens bis heute nicht aufgearbeitetem Unrecht: In „10 Tage im Oktober“ von Thomas Frick erzählen junge Leute, arglose Passanten, eine hochschwangere Frau, wie sie auf Lkw gezerrt und mit Knüppeln traktiert wurden, während der Einsatzleiter vom Mob spricht und von gemäßigten Maßnahmen, er fühlt sich sichtlich unwohl dabei. In „Leipzig im Herbst“ zeigen „Zugeführte“ die Pferdeställe, in denen sie fast 24 Stunden eingepfercht waren. 16 Boxen für die Männer, zwei für die Frauen.

„Tiananmen steckte uns in den Knochen“

Es ist seltsam, die körnigen -Schwarz-Weiß-Filme wiederzusehen. Zum einen wegen der Geschwindigkeit. Schon damals beim Filmfest Ende November waren die Bilder keinen Monat alt und stammten doch aus vorvergangener Zeit. Die Leute lachten im Saal, als die Demonstranten im Film Reisefreiheit forderten, die Mauer war ja weg. Und während auf der Leinwand noch „Wir sind das Volk“ gerufen wurde, hieß es auf dem Leipziger Ring bereits „Wir sind ein Volk“.

Zum anderen wegen dieses Momentums: Wenn Geschichte gerade passiert, weiß man nicht, wie sie ausgeht. „Tiananmen steckte uns in den Knochen“, sagt Thomas Frick. Die Befragten gingen vor der Kamera ein großes Risiko ein.

Der Umgang auf der Straße war ungemein zivil

Da ist Angela Kunze, die zehn Tage in der Gethsemane-Kirche fastete. Leise Stimme, blasses Gesicht, scheu. Aber sie dirigiert die Kirchgänger beim Kanon „Dona nobis pacem“, einem der Protestsongs von ’89. Da ist der Leipziger Wehrpflichtige, der sich schämt: Tränengas, das könne er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Da ist der Arbeiter, der offen die marode DDR-Wirtschaft anspricht.

Viele blutjunge Gesichter, Kinder fast noch, sie äußern sich zögernd, ungelenk. Aber mit einer Zivilcourage, von der man sich fragt, woher sie kam. Auch der ungemein zivile Umgang auf der Straße: Wenn die Leipziger sich vor der Kamera streiten, tun sie dies höflich und mit großem Respekt voreinander.

Kurz vor Mauerfall. Auf den Montagsdemonstrationen äußerten Menschen frei ihre Meinung. Szene aus dem im Oktober 1989 gedrehten Dokumentarfilm „Leipzig im Herbst“.
Kurz vor Mauerfall. Auf den Montagsdemonstrationen äußerten Menschen frei ihre Meinung. Szene aus dem im Oktober 1989 gedrehten Dokumentarfilm „Leipzig im Herbst“.
© Defa-Stiftung

Wer am 7. Oktober in Ost-Berlin war, konnte Ähnliches erleben: Wie sich die Menschen spontan vor dem Hotel versammelten, in dem Gorbatschow sich aufhielt. Wie sie Re-for-men skandierten und merkten, der Rhythmus funktioniert nicht gut, Meinungsfreiheit geht besser. Wie Vatermuttersohn gerade vom Rummel am Alex kamen und die Mutter an der Straßenecke einen Stasi-Mann anrempelte, spontan und geschickt, wie aus Versehen, so dass er die Verfolgung eines Demonstranten aufgeben musste. Danach fuhr ihr der Schreck in die Glieder.

Man fragt sich auch, jetzt in Zeiten der Omnipräsenz der Medien und der AfD, wo all diese couragierten Demokraten geblieben sind, die nicht für die D-Mark auf die Straße gingen, sondern für die Freiheit. Filme wie „Leipzig im Herbst“ und „10 Tage im Oktober“ bezeugen, dass es sie gegeben hat, in großer Zahl, selbst bei den Staatsdienern in Uniform. Und dass es den Augenblick eines offenen Ausgangs gab, mit anderen Optionen als der schnellen Wiedervereinigung.

Geschichte besteht aus Kippmomenten

Geschichte ist nicht zielgerichtet. Sie besteht aus Kippmomenten, weniger aus Zufällen als aus Myriaden von kleinen Entscheidungen Einzelner. In diesen Momenten dehnt sich die Zeit und verdichtet sich doch. Der erste Kippmoment: dass Menschen angstbefreit auf die Straße gingen. Der zweite: dass die Revolution friedlich blieb.

Der dritte folgte wenig später. Bis März 1990 drehte Gerd Kroske (der sich bis heute in seinen Filmen mit Ost-West-Themen befasst) in Leipzig den ersten Kurzfilm seiner „Kehraus“-Trilogie, die Straßenkehrer bei ihrer Arbeit begleitet. Die Stadt ist nicht wiederzuerkennen. West-Investoren streifen im Trenchcoat durch die Straßen, Helmut Kohl wird bejubelt und auf dem Karl-Marx-Platz wedeln sie mit Deutschlandfahnen.

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