Berlinale-Filme „Selfie“ und „Midnight Traveler“: Wie das Smartphone den Dokumentarfilm verändert
Sich selbst der Nächste: Die Dokumentarfilme „Selfie“ und „Midnight Traveler“ im Berlinale-Panorama wurden mit Handykameras gedreht.
Fast jeder hat ein Smartphone. Und immerzu dabei. Kein anderes Gerät verbindet so vollständig mit der Welt. Trotzdem fristet es, gemessen an seinen künstlerischen Möglichkeiten, ein armseliges Dasein. Obwohl das Netz überschwemmt wird mit Fail-Videos und viele gerne mit der Handykamera festhalten, was sie gerade erleben, setzt sich aus diesen Alltagssplittern selten eine Erzählung zusammen. Wer glaubt schon, das eigene Leben sei bedeutend genug, um es zum Stoff eines narrativen Selfies zu machen?
Auch bei Pietro und Allessandro, zwei Jugendlichen aus Neapel, war das so. Sie dachten, sie seien nichts. Man redete über sie wie über Dreck. Sollte es noch letzte Hoffnungen bezüglich ihres Stellenwerts gegeben haben, wurden sie zerstört, als man ihren besten Freund abknallte. Davide Bifolco war 17, als er sich am 5. September 2014 um 2 Uhr nachts auf seinem Moped die Dummheit einer Verfolgungsjagd mit der Polizei erlaubte. Als ein Carabinieri ihn und ein Dutzend weiterer Jungs in einem Café stellte, fiel der Schuss, der Davide in die Brust traf.
Selfie, also bin ich
Danach dachten viele in Neapel, dass es ablaufen würde wie immer. Der Polizist, der behauptete, dass seine Waffe versehentlich losgegangen war, würde davonkommen, die Sache vertuscht werden. Niemanden würde der Fall nach ein paar Monaten interessieren. Denn Davide Bifolco stammte aus Traiano, einem berüchtigten Mafia-Viertel. Da war ein Junge mit einer Kugel in der Brust doch offenkundig nur das, was eben passierte.
Und sicher wäre es genauso gekommen, hätte Regisseur Agostino Ferrente nicht einen ziemlich guten Einfall gehabt. Er wandte sich an die beiden engsten Freunde Bifolcos, aber statt einen Film über sie zu drehen aus der Distanz, gab er Pietro und Allessandro ein Smartphone und bat sie, ihren Alltag selbst zu dokumentieren – und zwar so, dass sie stets im Bild sein würden. So ist „Selfie“ entstanden, eine filmische Annäherung zweier Freunde an sich selbst. Das Smartphone wird ihr ständiger Begleiter, als sie über Schüsseln gebeugt Pasta verdrücken, auf Mopeds durch die Straßen rasen und in der Sommerhitze brütend nachdenken über ihre Berufsaussichten, über Davide und wie sehr sie ihn vermissen.
Anfänglich reagieren sie sichtlich unbeholfen im Umgang mit der Kamera. Besonders Pietro, ein dicker Bursche, dessen Übergewicht ihn stöhnen und schwitzen lässt, fremdelt mit seinem Aussehen, für das ihn viele fertigmachen. Er würde gerne Friseur werden, wenn man ihm eine Chance gäbe, wäscht und frisiert seinem Kumpel gelegentlich die Haare. Allessandro hat einen Job in einer Espressobar gefunden. Einmal machen sie einen Ausflug ans Meer, wo die besseren Viertel eigene Zugänge zu den Buchten am Golf von Neapel haben. Und sie fragen sich, ob sie selbst oder eines ihrer Kinder dort jemals leben könnte. „Hast du eine Vorstellung davon, wie hoch die Mieten hier sind?“, fragt Allessandro. So sieht man zwei jungen Männern in „Selfie“ dabei zu, sie selbst zu sein und sich dabei langsam zu erkennen. Ferrente geht es um diese Selbstermächtigung: Selfie, also bin ich. Der offiziellen Version von der Gewalt in Traiano soll eine wahrhaftigere Geschichte entgegengesetzt werden. Wie das „Direct Cinema“ der 50er Jahre von beweglichen Handkameras profitierte, um näher ans profane Leben heranzukommen, das wir Normalität nennen, will auch das Handy- Kino mit der Lebenswirklichkeit der Protagonisten verschmelzen. Die Bilder sind unscharf, verwackelt, zusammenhanglos. Ordnungsprinzip ist die Collage. Aus der Fülle visueller Eindrücke entwickelt sich der Sog, der einen in fremde Leben hineinzieht.
Beide Filme handeln von Leuten ohne Chance
Bei „Midnight Traveler“ von Hassan Fazili und Fatima Hossaini bildet die Fluchtgeschichte, die das afghanische Paar mit seinen beiden Töchtern erlebt, den Rahmen. Ihre Odyssee von Masar-e Scharif bis Ungarn hat drei Jahre gedauert. Mit drei Mobilfunkgeräten haben sie daraus ein Roadmovie gemacht, das viel mehr als bloß eine Art Logbuch der Selbstrettung einer Familie ist. „Midnight Traveler“ setzt Angst, Frust und zermürbender Langeweile eine Poesie des Augenblicks entgegen, die sich aus Wolkenformationen, Vogelschwärmen, dem Lachen der Kinder, den Gesprächen der Eltern ergibt. Die Rettung ist auch das gute Bild.
Fazili und Hossaini verstehen sich als Filmemacher. Sie war in ihrer Heimat Schauspielerin, er drehte einen Dokumentarfilm über einen Taliban-Führer, der nach der Premiere hingerichtet wurde. Fazili musste untertauchen, sein Künstlercafé wurde geschlossen. Der Asylantrag für Australien umfasste Hunderte Seiten, trotzdem wurde er abgelehnt. Er habe an die Grenze Europas reisen müssen, sagt er, um seinen Anspruch geltend zu machen. Doch der Weg endet in einem ungarischen Auffanglager, einer „Transitzone“, in der die Menschen hinter Stacheldraht monatelang auf Auskunft warten. Ein Hochsicherheitstrakt, der zum Nichtstun und Verschwinden verdammt. „Ich will“, sagt die Tochter, „diesen Ort bald vergessen haben.“ Ist es Zufall, dass Smartphone-Filme von Leuten handeln, die keine Chance haben?
Denn bei „Selfie“ ist es ja genau so. Was ihn sehenswert macht, ist allerdings nicht der soziale Aspekt, der Ghetto- Blick. Sondern, dass er eine wunderbare Freundschaft zeigt. Die vertieft sich auch dadurch, dass das Filmprojekt den beiden Protagonisten Gelegenheit gibt, typische Mafia-Ikonografien zu inszenieren, was alle Beteiligten sehr komisch finden. Die Härten des Viertels sind den Jungs fern. Während eine 14-Jährige erzählt, dass sie einem Mann für immer loyal bleiben und seine Kinder großziehen würde, wenn er ins Gefängnis müsste, weiß man, dass der herzensgute, kurzatmige Pietro niemals dieser Mann sein würde.
„Selfie“, 13.2., 17.30 (Cubix 7), 15.2., 22 Uhr (Zoo Palast 2); „Midnight Traveler“, 13.2., 14.30 Uhr (Colosseum 1), 15.2., 12 Uhr (Cinestar 7), 16.2., 14 Uhr (International), 17.2., 14.30 Uhr (Cinestar 7)