Filmkritik "Madame Marguerite": Wer reich ist, muss nicht singen können
Eine miserable Sängerin, die ihr Publikum mitten ins Herz trifft: Catherine Frot spielt Marguerite, in der fabelhaften Tragikomödie „Madame Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne“.
Es ist ein Graus, eine Pein. Wenn Baronin Marguerite Dumont Opernarien schmettert, tut es einem körperlich weh. Sie wissen es alle, die Dienerschaft, der Butler, all die Snobs und heuchlerischen Freunde, die zum Benefiz-Hauskonzert für Kriegswaisen ins kleine Château vor den Toren von Paris strömen. Aber sie lächeln gequält und klatschen höflich, denn Madame ist reich und kann es sich leisten.
Nur ihr Ehemann Georges täuscht bei solchen Gelegenheiten gern eine Autopanne vor, an der immer gleichen Wegkreuzung mit der malerischen Baumgruppe, um – leider, leider – mal wieder zu spät zu erscheinen. Im Kino ergeht es einem nicht besser, schnell wird einem bang vor der nächsten Gesangsdarbietung der Hobby-Diva. Am liebsten möchte man sich die Ohren verstopfen, wenn sie Mozarts Arie der Königin der Nacht kräht oder „Norma“ verhunzt.
Eine Sängerin, die nicht singen kann. Die Heldin von Xavier Giannolis fabelhaftem Kostümfilm ist von einem realen Vorbild inspiriert: von der US-Amerikanerin Florence Foster Jenkins, jener legendären Exzentrikerin, die es in den 40er Jahren bis in die Carnegie Hall schaffte. Stephen Frears bringt ihre Geschichte übrigens demnächst auf die Leinwand, mit Meryl Streep in der Hauptrolle.
„Madame Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne“, uraufgeführt beim Filmfest Venedig, ist allerdings kein Biopic, sondern eine in fünf komische, tragische Kapitel sortierte Parabel über die Wahrheit des Gesangs und das Wesen der Kunst, angesiedelt im Frankreich der Zwanzigerjahre.
Wie viel Maske braucht der Mensch?
Weiß sie, dass sie keine Stimme hat? Wie viel Autosuggestion steckt in ihren Auftritten? Hybris oder Hingabe, das außerordentliche Talent oder der Pakt mit dem Publikum – was macht den Starkult, auch den heutigen, im Kern eigentlich aus? Regisseur und Drehbuchautor Giannoli hat sich in Filmen wie "Superstar" (2012) mit Kad Merad oder „Chanson d’amour“ mit Gérard Depardieu (2006) schon öfter mit der Frage befasst, wie das Rampenlicht Menschen verändert und was geschieht, wenn die Liebe ins Spiel kommt. Marguerite möchte nur eins: ihren Ehemann, der als Architekt den Amerikanern beim Wiederaufbau des kriegszerstörten Frankreich hilft, für sich gewinnen und mit ihrem Gesang glücklich machen. Aber der zieht es vor, sich im Bärenfellmantel über die Motorhaube zu beugen.
Es beginnt mit einer Des-Kaisersneue-Kleider-Episode. Die junge, hochbegabte Sängerin Hazel (Christa Théret) eilt als Aushilfe für die Purcell-Einlagen ins Schloss und kann nicht glauben, was sie da hört. Ebenso wie zwei weitere Jungspunde, die sich illegal in die illustre Gesellschaft eingeschlichen haben. Hazel, der Journalist Lucien (Sylvain Dieuaide) und der Dada-Poet Kyril (Aubert Fenoy) sind irritiert, amüsiert, fasziniert: Diese Marguerite ist ein Urviech.
Prompt veröffentlicht Lucien in seiner Zeitung eine Eloge, die Marguerite der Dienerschaft vorliest, umgeben vom schneeweißen Blumenmeer, das ihr treu ergebener Butler Madelbos (Denis Mpunga) arrangieren ließ. Und prompt organisiert Kyril Marguerites ersten Auftritt in Paris, im Club der Surrealisten. Es gibt Bach samt Klavierzertrümmerung, bärtige Frauen und Transvestiten, Lichtmalerei, politische Pamphlete. Die Baronin erscheint nichtsahnend im Marianne-Kostüm mit Kokarde auf der Heugabel und ausgespanntem Bettlaken als Leinwand für Weltkriegs-Wochenschauszenen. Sie schmettert die Marseillaise – ein Skandal, ein Bombenerfolg.
Die verzerrte Stimme ist Abbild der zerrissenen Zeit
Die Dekadenz der Traditionalisten, die Happenings der Avantgarde, die Gegensätze berühren sich? Auch davon handelt Giannolis mit zahlreichen Sidekicks, verspielten Stilbrüchen und einer wilden Musikmischung (Renaissancegesang, Mozart, Puccini, „Der Bajazzo“, Arthur Honegger, die Swingle Singers, Michael Nyman ... Musik: Ronan Maillard) angereicherter Film. Von der Weltflucht der Altvorderen und den Experimenten der Moderne, von Dada und Neuer Musik, Jazz und Underground, der schrillen, unruhigen Zwischenkriegszeit. Europa in Trümmern, eine verzerrte Stimme, mehr Schrei als Gesang: Darin steckt mehr Wahrheit über diese zerrissene Ära als in jedem Schönklang. Und über unsere eigene zerrissene Zeit.
Man kann es auch persönlich nehmen. Weil Catherine Frot die Hauptrolle spielt, geht es nicht zuletzt um die Erfindung des Ich, um die Lügen, mit denen ein jeder seinem Ego schmeichelt. Catherine Frot? Ihr schlichtes Gesicht, das man eher einer Dienstmagd als einem Star zuschreiben würde, kommt einem vertraut vor. Aber man kennt sie hierzulande kaum, weil sie seit ihrem Fernsehdebüt 1980 neben wenigen Titelrollen („Die Köchin und der Präsident“) vor allem auf der Bühne und in Nebenpartien brillierte.
Eine Entdeckung, eine Erscheinung: ihre Unbekümmertheit, gepaart mit divenhafter Exaltiertheit, wenn sie mit wippender Pfauenfeder gekrönt vor ihrem Publikum die Arme ausbreitet, das kapriziös Mädchenhafte, der leicht nervöse Augenaufschlag im Verein mit gewitzter Schlagfertigkeit („Geld ist unwichtig, wichtig ist nur, dass man es hat“), der Fleiß, die vermeintliche Naivität, die Leidenschaft, die Lebenslust, die Obsession. Hundert Prozent künstlich, hundert Prozent authentisch: Catherine Frot gelingt es, ihr Herz zu Markte zu tragen und dabei doch das Geheimnis ihrer Figur zu wahren.
Bei den Claqueuren sind Ovationen teurer als Buhrufe
Einmal sitzt sie alleine im Schlafgemach, verbirgt ihr Gesicht hinter einer weißen Karnevalsmaske mit langer Nase – ein Inbild der Einsamkeit. Wie viel Maske braucht der Mensch? Sind wir nicht alle verkannte Genies? Jeder ist ein Künstler, hat Warhol gesagt, jeder ist begabt. Bloß dass einem der Geniestreich bei der Arbeit nie recht gelingen will, trotz noch so festem Glauben an die eigenen Fähigkeiten. Schwache Momente, schiefe Töne, wer kennt das nicht.
Der Selbstzweifel, der der Kreativität innewohnt, die hauchdünne Grenze zwischen Meisterwerk und Scharlatanerie, davon handelt ja auch Wolfgang Beckers neuer Film „Ich und Kaminski“ mit einem womöglich blinden Maler und seinem Journalisten-Biografen im Zentrum.
Der Kulturbetrieb, der sich selber aufs Korn nimmt: „Madame Marguerite“ macht sich mehr noch als Becker einen charmant-bösen Spaß daraus. Chefdiener Madelbos, der Marguerite in berühmten Opern-Posen als Madame Butterfly oder Brünnhilde fotografiert: die Diven-Postkarten als PR-Strategie der Zwanziger. Die Claqueure im Musiktheater, generalstabsmäßig organisiert: Buhkonzerte sind teuer, Ovationen noch teurer, und die Spanier klatschen am besten. Der Heldentenor (Michel Fau), der Marguerite unterrichtet, als sie beschließt, in Paris ein Recital zu geben, vor normalem zahlendem Publikum: ein brillanter Sänger auf der Bühne, ein Rüpel hinter den Kulissen.
Schönes weiches Licht: Giannoli und sein Kameramann benutzen alte Objektive
Virtuos jongliert der Film mit den Stereotypen des Celebrity-Rummels. Dabei taucht er die Szenerie in warme, erdige Farben und in ein trügerisch weiches Licht (Kameramann Glynn Speeckaert benutzte Objektive aus den 50er Jahren), als seien die Bilder von Marguerites eleganter Selbststilisierung affiziert.
„Madame Marguerite“ wäre nicht zuletzt vor allem raffiniert-vergnügliches Ausstattungskino, in dem ausgewachsene Pfauen durch die Schlossgemächer getragen und Emus gestriegelt werden. Gäbe es da nicht diesen einen Moment, in dem Madame vor das verknöcherte Wohlfahrtskomitee des Adels zitiert wird. Weil sie die Nationalhymne verunglimpft hat, muss sie sich erklären. „Allons enfants“: Sie sagt, sie hat es für die Freiheit getan. Es ist der Moment, in dem ihr dauergenervter Ehemann (André Marcon) sie plötzlich mit anderen Augen betrachtet, zum ersten Mal versteht er sie. Die Geburt der Liebe aus dem Respekt: Fortan sind die beiden ein hohes Paar, vereint in der Tragödie.
Catherine Frot alias Marguerite und ihr Auftritt auf der großen Bühne
Der Rest ist große romantische Oper, Lebenstheater mit Koloratur. Während Lucien seinen Liebeskummer (wegen der schönen Sängerin Hazel) in einer Opiumhöhle mit Schattentheater betäubt, bereitet Marguerite ihren großen Auftritt vor, Bellinis „Casta diva“ im Schwanenkostüm à la Marlene Dietrich. Ein Wunder geschieht, ein Zusammenbruch folgt, Marguerites Glück in den Armen ihres geliebten Mannes wird unwiederbringlich sein. Am Ende kippt die schillernde Illusion dieses Märchens von Liebe und Kunst leider ins Eindeutige. Aber etwas Besseres als den Operntod findet sie nirgends, diese unglaubliche Frau, die der Freiheit ihre Stimme gab.
Ab Donnerstag in acht Berliner Kinos. OmU: Cinema Paris, Kino in der Kulturbrauerei
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