Die Zukunft der Volksbühne: Wer am Rad dreht
Klaus Dörr ist der Retter der Volksbühne. Aber wer soll das Haus in Zukunft führen? Der Senat hat es mit der Entscheidung nicht eilig.
Schon bemerkt? Es ist wieder ein Theater. Das ist im Moment die wichtigste Entwicklung im Berliner Bühnenleben und auch darüber hinaus: Die mythenbeladene Volksbühne, Berlins Walhall, regt sich und streckt sich, sie ist nicht tot, nicht zusammengebrochen unter der Last der großen Vergangenheit und einer doch sehr ungewissen Zukunft. Geht man jetzt in das große Haus am Rosa-Luxemburg-Platz, vorbei am zurückgekehrten, renovierten Räuberrad, das auch die Hunde so lieben, dann ist dort Publikum, der Auftrieb ist spürbar, es läuft.
Das lässt sich auch in Zahlen nachweisen. Im Jahr 2018 lag die Gesamtauslastung bei gut 66,4 Prozent, was insgesamt 105 000 Besuchern entspricht. Dabei verzeichnet die Volksbühne im zweiten Halbjahr 2018 eine Auslastung von 80 Prozent, eine bemerkenswerte Steigerung. das hat Klaus Dörr in atemberaubend kurzer Zeit geschafft. Der 56-Jährige ist seit letztem Sommer Interimsintendant. Das hässliche Wort übersetzt man am besten mit: Himmelfahrtskommando. Aber er hat mit Gastspielen wie der Hamburger „Unterwerfung“ mit Edgar Selge und auch schon Eigenproduktionen von Leander Haußmann und Susanne Kennedy einen Crash abgewendet.
Man erinnert sich nicht gern an dieses letzte Katastrophenjahr. Im April 2018 gab Chris Dercon, der Nachfolger Frank Castorfs, nach nur wenigen desaströsen Monaten auf. Volksbühne auf Titanic- Kurs. Der unglaubliche Misserfolg hatte viele Väter, das Fiasko hat ein Mensch allein nicht ins Werk setzen können. Wie wird man wohl die heftigen Verwerfungen einmal aus der Distanz von zehn oder zwanzig Jahren betrachten?
Kultursenator Klaus Lederer lehnte Chris Dercon von Anfang an ab, er schien immer offen für dessen Scheitern. Viele Theaterleute gönnten dem fremden Wolf die Pleite und schauten dem Drama zu, auch wenn sie hätten helfen können. Dercon wiederum hat fast alles falsch gemacht und seinen Gegnern in die Hände gespielt. Unvermögen, brutaler Gegenwind und auch noch etwas Pech waren die Ingredienzen eines facettenreichen Skandals.
Dann kam Dörr. Der erfahrene und gut vernetzte Theatermacher (Maxim Gorki Theater Berlin, Staatsschauspiel Stuttgart) hat nun einen Vertrag bis 2020. Das bietet wenig Spielraum. Interimistisch kann er nur für die nächsten anderthalb Jahre planen und Künstler engagieren; so geht es sonst nur in der freien Szene zu. Dennoch ist es Klaus Dörr gelungen, Sasha Waltz, Constanza Macras und Stefan Pucher für neue Produktionen in dieser Spielzeit zu gewinnen.
Schon vergessen? Damit wird ein Theaterhaus gesichert, das vor Kurzem noch Brennpunkt heißester Debatten war. Ganze Biografien gerieten hier in den Schredder der Kulturpolitik, an der Volksbühne sollte sich die Gentrifizierungsschlacht entscheiden – und auch gleich noch die Frage, wie diese Hauptstadt aussehen soll. Größer ging’s nicht mehr.
Entscheidung im Frühsommer
Aber wollte der Kultursenator nicht bis Ende letzten Jahres verkündet haben, wer 2020 die Volksbühne vom Interimshelden Klaus Dörr übernimmt? Die Theaterwelt wartet. Was dauert da so lang? Die Kulturverwaltung berät sich noch. „Wir sind bei der Arbeit“, hört man aus der Brunnenstraße, „wir sind mitten im Prozess.“ Es gebe dabei viele Namen, Optionen, Gedanken, man sei sich bewusst, dass man irgendwann auch zu einer Entscheidung kommen müsse. Im Frühsommer soll es so weit sein. Vor den Sommerferien will Lederer bekannt geben, wer einmal die Geschicke der Volksbühne lenken soll.
Das ist alles, mehr erfährt man nicht. Und die Gerüchteküche bleibt ungewöhnlich kalt. Ein Haus für den Tanz vielleicht? Kay Voges, der Dortmunder Intendant, wurde gelegentlich genannt, auch der Name der Regisseurin Claudia Bauer fiel, freilich nur im Zusammenhang mit einer kollektiven Intendanzlösung. Zwei, drei, fünf, viele?
Klaus Lederer hat seinen Radius selbst eingeschränkt, als er letztes Jahr beim Volksbühnenkongress in der Akademie der Künste der wohlfeilen Forderung zustimmte, die Volksbühne müsse „jünger, diverser, weiblicher“ werden, was man ja auch als Abkehr vom alten Castorf-Männer-Modell verstehen kann. Bei Lederer stapeln sich alle möglichen Bewerbungen um die Volksbühne, aber das wird ihm nicht helfen. Er steht vor einer Entscheidung, die seine kulturpolitische und künstlerische Kompetenz ausweist. Die objektiv schwierig ist wie schon lange keine Intendanzbesetzung mehr. Die Lage ist gewiss nicht viel einfacher als damals für den Regierenden Bürgermeister Michael Müller und seinen Kulturstaatssekretär Tim Renner, als es darum ging, eine Volksbühne nach Frank Castorf & Co. zu erfinden.
So wie Renner wohl auf ewig die Dercon-Berufung unter die Nase gerieben wird, so verbindet sich einmal Lederers Amtszeit mit seiner Auswahl der Castorf-Nachnachfolge. Mit seiner schroffen Anti-Dercon-Haltung hat der Kultursenator selbst einen hohen Maßstab für diejenigen gesetzt, die nun kommen. Was immer passiert: Diesmal sorgt Lederer für einen Renner oder einen Ladenhüter.
Der Senat muss sich dabei gut überlegen, was er mit Klaus Dörr anfängt. Soll der Retter dieses Theaters im Sommer 2020 seinen Platz räumen, für wen auch immer?
Man kann den Fall auch anders betrachten. Lederer hat stets darauf beharrt, die Volksbühne müsse ein Repertoire- und Schauspielhaus sein. Das ist es jetzt wieder, dafür arbeitet Dörr mit seinem Team. Ein Ensemble aufzubauen, ist unter den Interimsbedingungen schwer. Aber auch da gibt es Ansätze. Es spricht also nichts dagegen und vieles dafür, Klaus Dörr über das Interim hinaus zu vertrauen.
Unter unmöglichen Umständen hat er pragmatische Wunderdinge vollbracht. Dörr sollte die Gelegenheit bekommen, wenigstens zwei weitere Jahre an der Volksbühne zu arbeiten, bis 2022 oder darüber hinaus, und das Theater zu konsolidieren. Er verdient die Chance, zeigen zu können, wie er unter regulären Bedingungen reüssiert.
Aber auch diese Variante würde erfordern, dass Lederer sich schnell entscheidet. Klaus Dörr bleiben noch knapp anderthalb Spielzeiten an der Volksbühne, dann wäre er wieder frei. Ein neues Haus, einen neuen Job aber muss er sich jetzt suchen, wenn es am Rosa-Luxemburg-Platz für ihn nicht weitergeht und er nicht unters Räuberrad kommen will. Lederer nimmt sich viel Zeit, die das Theater nicht hat.
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