James Joyce in Deutschland: Ein Meinherr aus Teutschland
Wie die Berliner Bleibtreustraße in James Joyces großen Dublin-Roman „Ulysses“ kam. Am Sonntag wird auf der ganzen Welt wieder der Bloomsday zelebriert
Den Anfang von James Joyce’ „Ulysses“, dessen Handlung sich bekanntlich auf einen einzigen Tag beschränkt, den 16. Juni 1904, bildet die Frühstücksszene in einem alten Turm in Sandycove am Ufer der Bucht von Dublin. Dort hatte Joyce 1904 kurzzeitig gelebt. So nimmt der Irrweg der beiden Helden durch Dublin – Leopold Bloom, Annoncenakquisiteur, und Stephen Dedalus, aufstrebender Schriftsteller – seinen Lauf. Im Roman ist eine Fülle von Anspielungen auf heute kaum bekannte Ereignisse und Persönlichkeiten des frühen 20. Jahrhunderts enthalten. Dublins Straßen sind die Lebensadern dieser modernen Odyssee. Im vierten Kapitel des Romans taucht jedoch plötzlich eine Berliner Straße auf.
Leopold Bloom ist im Begriff, eine Schweineniere bei Metzger Dlugacz in der Nähe seines Dubliner Zuhauses zu kaufen. Sein Blick fällt auf eine Zeitungsannonce für „Agendath Netaim: Pflanzergenossenschaft. Ankauf weiter sandiger Landstriche von der türkischen Regierung und Bepflanzung mit Eukalyptusbäumen“. Potenzielle Investoren dieses Landbauprojekts in Palästina werden an die „Bleibtreustraße 34, Berlin, W 15“ verwiesen. Die Bleibtreustraße, die den Ku’damm und die Kantstraße kreuzt, wurde 1897 nach einem Künstler des 19. Jahrhunderts benannt: Georg Bleibtreu (1828 bis 1892), ein für seine Darstellung von Schlachten bekannter deutscher Maler, der in der Nähe gewohnt hatte.
Der in Dublin geborene Bloom hat ungarisch-jüdische Wurzeln und interessiert sich für die Idee, in Palästina Investitionen zu tätigen. „Agendath Netaim“ kommt ihm im Verlauf des Romans immer wieder in den Sinn. Wie aber hat Joyce, der nie eine Reise nach Berlin unternommen hatte, von dieser obskuren Adresse in Berlin erfahren? Warum fiel gerade sie ihm ein, als er seinen großartigen Roman zwischen 1914 und 1921 in Triest, Zürich und Paris verfasste?
Mir drängte sich zunächst der Gedanke auf, dass Joyce vom Interesse Kaiser Wilhelms am Osmanischen Reich und dessen Plänen einer Eisenbahnstrecke zwischen Berlin und Bagdad wusste. Untermauert wird diese Theorie dadurch, dass Joyce einige Jahre in Triest lebte und sich über die politischen Machenschaften im Zusammenhang mit dem schleichenden Untergang des Türkischen Reichs im Klaren gewesen sein muss.
Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Verweis auf die Bleibtreustraße Joyce’ Zürcher Zeit geschuldet ist. Joyce hielt sich während des Ersten Weltkriegs in Zürich auf (und suchte 1940 erneut Zuflucht in der Schweiz, wo er 1941 starb). Hier begegnete er Karl Bleibtreu (1859 – 1928), einem Berliner Schriftsteller und Literaturkritiker, Sohn des Mannes, nach dem die Straße in Berlin benannt wurde. Bleibtreu hatte einen feurigen Charakter, war überzeugter Nationalist und bewunderte Nietzsche und die literarische Strömung des Sturm und Drang.
Joyce war durch ein Buch von 1907 auf ihn aufmerksam geworden, in dem Bleibtreu behauptete, Shakespeares Werke seien in Wahrheit von Roger Manners, dem fünften Earl of Rutland, verfasst worden. Joyce las „Der Wahre Shakespeare“ und schrieb Bleibtreu, um mehr über dessen Shakespeare-Theorie zu erfahren.
Karl Bleibtreus Theorie wird in der neunten Episode von „Ulysses“ aufgegriffen, die in der irischem Nationalbibliothek in der Dubliner Kildare Street spielt. Die Episode besteht aus einem Dialog zwischen Stephen Dedalus und einigen Bibliothekaren über Shakespeare und insbesondere Hamlet. „Herr Bleibtreu, der Mann, den Piper in Berlin getroffen hat“, glaubt anscheinend, dass das Geheimnis der Urheberschaft des Stückes in dem Shakespeare gewidmeten Denkmal in Stratford-upon-Avon verborgen sei. Die Faszination der Deutschen für den englischen Dichter wird anhand folgender Äußerung von Dedalus ersichtlich: Shakespeare würde „in Deutschland zum Meisterpolierer italienischer Skandale gemacht“. Joyce muss seine Zweifel an der Stichhaltigkeit des deutschen Gelehrtentums gehabt haben. Er legt Dedalus einen Kommentar in den Mund: „So soll doch irgendein Meinherr aus Teutschland sein Leben lang nach tiefverborgenen Bedeutungen in der Tiefe des Waschkorbs wühlen.“
In diesem Kapitel von „Ulysses“ lassen sich die meisten Verweise auf Deutschland finden. Es beginnt mit einem Quäker-Bibliothekar, der auf „die unschätzbaren Seiten des Wilhelm Meister“ hinweist. „Ein großer Dichter über einen großen Dichter-Bruder.“ Er kommt zu folgendem Schluss: „Man spürt immer wieder, wie wahr Goethes Urteile doch sind. Wahr in der erweiterten Analyse.“ Im weiteren Verlauf des Kapitels zitiert Dedalus einen Ausspruch von Goethe und stimmt diesem offensichtlich zu: „Was man in der Jugend wünscht, hat man in der Mitte des Lebens in Fülle.“
Als Joyce Ulysses verfasste, war seine Wertschätzung Goethes nicht allzu groß, bezeichnete er ihn doch als einen „langweiligen Staatsbeamten“ – offensichtlich änderte er jedoch später seine Meinung. Mit einem Wortspiel zollt er Goethe in „Finnegans Wake“ seine Anerkennung und lässt ihn teilhaben an diesem „primierten, favourisierten, kontinentalen Poet, Dannte, Göhtdie und Schüchs- Bier“ (Dante, Goethe und Shakespeare). Gemäß Joyce’ Anschauung der Weltliteratur befindet sich Goethe hier wahrhaftig in ausgezeichneter Gesellschaft. Joyce’ Biografen zufolge las dieser im Jahr vor seinem Tod Johann Peter Eckermanns Gespräche mit Goethe.
Joyce betrachtete sich als glühenden Europäer und lebte ab dem Alter von 22 Jahren bis zu seinem Tod in Triest, Paris, Rom und Zürich. Während all dieser Jahre kehrte er nur zwei Mal nach Irland zurück. Dennoch spielen alle seine großen Werke im Dublin des frühen 20. Jahrhunderts. Sein Protagonist Leopold Bloom interessiert sich im Gegensatz zu den Nebenfiguren für die Entwicklungen außerhalb Irlands. An einer Stelle des Romans denkt er darüber nach, sich ein neues Fernglas zu kaufen und steht grübelnd vor einem Schaufenster: „GoerzLinsen, sechs Guineen. Die Deutschen schaffens doch überall. Verkaufen zu günstigen Bedingungen, um den Markt unter ihre Fuchtel zu bringen. Unterbieten alle Preise.“
Joyce hatte dem Aufstieg des deutschen Kaiserreichs zu einer bedeutenden Macht in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In einer seiner Kurzgeschichten aus dem „Dubliner“ beschreibt Joyce einen in London lebenden irischen Journalisten, der nach Hause zurückkehrt und mit dem aufregenden Leben außerhalb Irlands prahlt und damit, wie sich dieses Leben vom „alten Trott von Dublin, wo man von solchen Sachen keine Ahnung hat“, unterscheidet. Joyce’ Heimkehrer „resümierte die Laster vieler Hauptstädte und schien geneigt, die Palme Berlin zuzugestehen“. Das Berlin des frühen 20. Jahrhunderts war für Joyce demnach ein Sinnbild fortschrittlicher Moderne. Während ihm Karl Bleibtreus ShakespeareTheorie beim Verfassen der von Shakespeare geradezu besessenen 9. Episode von Ulysses gelegen kam („Nach Gott hat Shakespeare am meisten geschaffen“), kann die Verwendung der Bleibtreustraße in „Ulysses“ vermutlich Joyce’ Interesse Joyce’ an Fremdwörtern zugeschrieben werden.
Dieser Gebrauch von Fremdwörtern ermöglichte ihm nicht zuletzt sein berühmtes Spiel mit der Sprache. Der Roman enthält eine Fülle merkwürdiger Namen wie zum Beispiel „Kriegfried Überallgemein“, der sich vollständig über mehr als zwei Zeilen des Romans erstreckt und Bruchstücke anderer Sprachen enhält, so auch Deutsch. An zahlreichen Stellen des Romans finden sich Querverweise auf deutsche Persönlichkeiten wie Luther, Marx, Mendelssohn und Wagner sowie auf weniger bekannte Personen wie den deutschen Kirchenmusiker Johannes Jeep (1582 – 1650), dessen Werk zitiert wird. Und Karl der Große sowie Paracelus sind Teil einer verrückten Litanei „irischer Helden und Heldinnen des Altertums“.
Wahrscheinlich erfuhr Joyce von Karl Bleibtreu, dass eine Straße in Berlin dessen Nachnamen trug. Die Hauptfigur von „Ulysses“ treibt die Untreue seiner Frau Molly um. Eine Straße, die zu ewiger Treue mahnt, muss auf den von seinen Interessen besessenen Joyce eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausgeübt haben. Joyce’ Fantasie wurde möglicherweise auch durch die Konnotation von Bleibtreu und Barnacle, dem Mädchennamen von Nora Joyce’, angeregt.
1904, in dem Jahr, in dem der Roman spielt, gab es das Haus in der Bleibtreustraße 34 scheinbar noch nicht. Es wurde erst 1908 erbaut und mit in Berlin ansässigen jüdischen Organisationen in Verbindung gebracht. Unter anderem befand sich in der Bleibtreustraße 34 ab 1921 eine jüdische Organisation zur beruflichen Förderung namens ORT, die 1880 in St. Petersburg gegründet worden war. Am Haus ist eine Gedenktafel angebracht, die an diese Verbindung erinnert. In „Ulysses“ ist Blooms jüdische Identität als Gegengewicht zum unzähmbaren Irisch-Sein der meisten anderen Romanfiguren allgegenwärtig. Vielleicht könnte hier künftig auch der Beziehung zwischen der Bleibtreustraße 34 und dem berühmtesten Roman des 20. Jahrhunderts gedacht werden.
Daniel Mulhall, 58, ist seit 2009 Botschafter von Irland in Deutschland und hat den Bloomsday bisher jedes Jahr in Berlin gefeiert.
Daniel Mulhall
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