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Polizistensohn Siggi Jepsen (Peter Miklusz, Mitte) in "Die Deutschstunde".
© Joachim Fieguth

"Die Deutschstunde" am Berliner Ensemble: Wenn der Verstand seekrank wird

Philip Tiedemann hat am Berliner Ensemble „Die Deutschstunde“ nach dem Roman von Siegfried Lenz inszeniert. Und so viel ist klar: An der Nordsee gibt es nichts zu lachen.

573 Seiten. 573 einzigartige Seiten, oft sehr komisch, wunderbar doppelbödig, obwohl es nichts zu lachen gibt, eigentlich für niemanden in Rugbüll an der Nordsee. Nicht für den Maler Max Ludwig Nansen, der von den Nationalsozialisten Malverbot bekommt, nicht für seinen Freund, den Polizisten Jens Ole Jepsen, den nördlichsten Polizisten des Reichs, nicht für sein jüngsten Sohn Siggi. Höchstens noch für den Kneipenwirt Timmsen, der von einer eigenen Eierlikördestille träumt. Nach dem Krieg. Man schlägt in Lenz’ „Deutschstunde“ eine beliebige Seite auf und findet Sätze wie: „Unerleuchtet, mit herabgezogenen Dächern standen die Anwesen in der Dunkelheit...“ Häuser sind auch nur Menschen, unerleuchtet.

Wie das spielen? Kein anderer als Christoph Hein hat aus einem der wichtigsten Romane der Nachkriegszeit eine Stückfassung von 90 Minuten gemacht. Das hätte auf der Probebühne des BE in der Regie von Philip Tiedemann eine Pionierleistung sein können, ist es aber doch nicht ganz. Im vergangenen November, nur einen Monat nach Siegfried Lenz’ Tod, stellte das Hamburger Thalia-Theater seine „Deutschstunde“ auf die Bühne, Regie: Johan Simons. Die Inszenierungen unterscheiden sich wie Tag und Nacht.

Wo in Hamburg am Anfang nichts war als Finsternis über der Nordsee, grell zerschrieen von ein paar Möwen, ist im Berliner Ensemble alles weiß, beinahe unerträglich weiß, so wie die leeren Blätter, die der Maler bald malen wird. Er wird sie seine „unsichtbaren Bilder“ nennen. Weiß sind Wände, Tische, Boden, Stühle, alles, nur die da auf ihren Stühlen sitzen, mit dem Rücken zum Publikum, tragen ein unbestimmtes Grau. Das ist wohl Realismus, denn die Menschen sind nicht schwarz oder weiß, sie sind graue Unbestimmbarkeits- und Mitläuferrelationen.

Aus den Falschrumsitzern werden die Einwohner Rugbülls

Nur einer sitzt anders herum, das ist (mit dem unbedingten Furor der Jugend: Peter Miklusz) Siggi Jepsen, der jüngste Sohn des nördlichsten Polizisten des Reichs. Es ist Anfang der 50er Jahre, aber an den Themen der Schulaufsätze erkennt man das noch lange nicht. „Die Freuden der Pflicht“. Dazu fällt ihm nichts ein, und dann zu viel, darum gibt er ein leeres Blatt ab, so leer wie die Bilder seines Lieblingsmalers.

Einer, der anders herum sitzt, allein: Das war auch der junge Siegfried Lenz aus Ostpreußen, der zur Marine einberufen, mit 19 Jahren in Dänemark einfach weglief. Im fremden Land hatte er es zum ersten Mal geschafft, allein zu sein: „die Welt befand sich mir gegenüber“. Das blieb so, es ist die Haltung des Schriftstellers.

Die Kinderwelt des Siegfried Jepsen dämmert herauf, und aus den grauen Falschrumsitzern (Georgios Tsivanoglou!, Jörg Thieme! Felix Strobel!) werden die Einwohner von Rugbüll, aus ihnen werden Möwen, Meer, Sturm und Wind, sie werden zur Beatbox der Nordsee. Das hat Fantasie und Witz, und wie ihr Möwengeschrei da ganz allmählich in „Rolling home...“ übergeht, ist bemerkenswert. Der Gestus der Sache ist vorsätzlich naiv, ein Beinahe-Bauerntheater. Dagegen hatte die Hamburger Inszenierung mit Jens Harzer als aasigem Polizisten eine hermetisch-formale Strenge, ganz Rugbüll befand sich im hohlen Kielraum eines Schiffes, ausgesetzt auf der hohen See des Lebens und der Zeit.

Am BE bleiben alle am Land. Und hier ist auch nicht der ewige Pflichterfüller Jepsen (unerbittlich: Joachim Nimtz) die Hauptfigur, sondern Martin Seifert als Max Ludwig Nansen, alias Emil Nolde. Unvergleichlich, wie Seifert ein halbes gleich herabfallendes Lächeln im Mundwinkel balanciert, als der nördlichste Polizist seinen "Unsichtbaren Sonnenuntergang mit Brandung" kontrolliert, und ja, ein wenig "zu dekorativ" sei er noch geraten.

Und der wirkliche Nolde? Ein Verfemter, der sein Malverbot, die Vernichtung seiner Bilder für ein großes Missverständnis hielt. Seine Kunst sei "deutsch, stark, herb und innig", kaum einer habe mehr gegen die "Überfremdung der deutschen Kunst" gekämpft als er. 

Kann der Verstand da nicht seekrank werden?

Vielleicht sollte man nach der Berliner „Deutschstunde“ gleich noch die Hamburger sehen – und natürlich den Roman wieder lesen. Es sind noch viele Seiten übrig.

Weitere Aufführungen: 17., 20., 26. Juni (19. 30 Uhr) und 30. Juni (19 Uhr, mit Publikumsgespräch).

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