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Cameron Carpenter und die International Touring Organ.
© Thomas Grube

Cameron Carpenter: Weltverbesserung am Spieltisch

Klangmacht, Präzision und Pfeifentricks: Cameron Carpenter revolutioniert die Orgelwelt. Eine Begegnung mit dem 33-jährigen Musiker.

Trifft man Cameron Carpenter, senkt sich unweigerlich der Blick. So, als verriete allein seine durchtrainierte Gestalt den ausgebildeten klassischen Tänzer, der mit den Füßen Chopin auf den Pedalen einer Orgel spielen kann. Diesmal stecken sie nicht in Glitzerschläppchen mit Glasabsatz, sondern in Plüschtierpuschen. Eine kleine Verletzung am Zeh, nicht schlimm, aber lästig. Stylish sieht er trotzdem aus. Mode ist für den 33-jährigen Musiker aus Meadville, Pennsylvania, unbedingt Ausdruck seiner Selbst. Würde ihm nicht der Titel „exzentrischster Organist der Welt“ vorauseilen, Carpenter ginge als US-Designer durch, der die Couture von Old Europe mit der scharfkantigen Weltläufigkeit New Yorks verschmilzt.

Doch der Mann mit dem Irokesenschnitt hat eine andere Mission, er arbeitet an nichts weniger als einer Revolution, von Berlin aus, wo er seit 2010 wohnt. Seinem Ziel, unser Bild von der Orgel vollends zu verändern, sie raus aus den Kirchen in die Mitte von Konzertsälen zu holen und zum ultimativen Musikentertainer zu machen, ist er jüngst ein gewaltiges Stück nähergekommen. Seine International Touring Organ hat ihre erfolgreiche Premiere gefeiert. Jahrelang hat Carpenter mit den amerikanischen Pionieren von Marshall & Ogletree das Hightechinstrument konzipiert, das nur ein Ziel hat – seinen Spieler frei zu machen von allem, was für Organisten seit Jahrhunderten zu ihrem nicht immer leichten Leben gehörte: die Tücken der Mechanik, Verstimmungen, Verzögerungen, Verklemmungen. Für Carpenter sind klassische Pfeifenorgeln mit ihren individuellen Macken oft nichts weiter als „waste of life“.

Cameron Carpenters International Touring Organ ist ein Hochleistungsrechner

Der 11. September 2001 hat vieles für immer hinwegfegt und zu Staub werden lassen. Auch die klassische Orgel der Trinity Church Wall Street war nach den Anschlägen zerstört. Ersetzt wurde sie durch das digitale Opus 1 von Marshall & Ogletree, Aufruhr ging durch die Orgelwelt – und der Julliard-Student Carpenter fand, wovon er geträumt hatte, seit er als Kind in der Ofenbauerwerkstatt seines Vaters auf der Hammondorgel Buxtehude und Bach spielte: ein blitzschnell reagierendes Instrument, das keine Entschuldigungen mehr zuließ. Ein Instrument, das ihm Abend für Abend Höchstleistungen abpressen würde, durch seine kühle, verschleißfreie Gegenwart und die geringstmögliche Friktion zwischen dem Konzept des Interpreten und seiner Umsetzung ermöglicht. Man könnte diese schier endlose Klangpotenz auch monströs finden, doch Carpenters Plüschtierfuß wippt: „I’m very very very thrilled.“

Und was heißt hier überhaupt exzentrisch? Ist es nicht viel exzentrischer, jahrzehntelang irgendwo im Rücken der Zuhörer auf einem einengenden Instrument zu spielen, eingepfercht in Raum und Repertoire? Undenkbar für Carpenter, der Atheist ist und wissenschaftlich an die Orgel herangeht. Klangmythen, die die Königin der Instrumente traditionell umwehen, entzaubert er mit einem Nachdruck, den man auch missionarisch nennen könnte, würde er sich nicht selbstrettend als in diesen Fragen geradezu „paranoid präzise“ beschreiben.

Seine International Touring Organ macht die Welt besser und zwar nachweisbar, da ist sich Carpenter völlig sicher. Nun will er beweisen, dass man auch mit Hochleistungscomputern und einem futuristischen Leitstandspieltisch eine tiefe, lebenslange Beziehung eingehen kann, so wie sie ein Geiger mit seinem Instrument pflegt. Wenn dies jemandem gelingt, dann Carpenter, von dem seine erste Lehrerin sagt, er strebe nach ultimativer Kontrolle. Einen ersten Eindruck, auch von eigenen Pop-Arrangements, erlaubt sein aktuelles Album „If I Could Read Your Mind“ (Sony).

Neu in Berlin angekommen, spielte Carpenter manchmal nachts in der St. Matthias-Kirche am Winterfeldtplatz. Es sei die amerikanischste Orgel der Stadt – das darf getrost als Lob für eine Pfeifenorgel durchgehen. Aber die Dimensionen des Raumes störten den kritischen Spieler, die daraus resultierende Indirektheit des Klangs. Da ist Carpenter die überarbeitete Schuke-Orgel in der Philharmonie schon lieber, für den Saal glüht er, mit der Orgel verbindet ihn immerhin ein produktives Arbeitsverhältnis. Seit 2012 eröffnet er auf Einladung der Berliner Philharmoniker die Orgel-Saison, auch dieses Jahr nimmt er als erster Organist am Spieltisch Platz. Doch nichts aus seiner Trickkiste dringt aus den Pfeifen, nichts, was aus seiner umfassenden Kenntnis der „vulgar music“ rührt, die er im Fernsehen hörte (zugucken hatte seine Mutter, die ihn lange selbst zu Hause unterrichtete, nicht vorgesehen). Nichts, was er in seiner Komposition „Music for an Imaginary Film“ durch die Register schleudert.

"Berlin ist eine Stadt für ernsthafte Menschen", findet Carpenter

Es wird ein reiner Bach-Abend sein, der nicht einmal mit dessen spektakulärsten Werken gespickt ist. Carpenters Publikum darf sich trotzdem auf nie gehörte Registrierungen und frei gefasste Tempi freuen und auf Einlagen, die unterstreichen sollen: Mit Gott hat das nichts zu tun, aber mit der Inspiration eines schöpferischen Interpreten. Der darf wenige Tage später noch mal ran an die Schuke-Orgel, wenn Terry Rileys ihm gewidmetes Orgelkonzert „At the Royal Majestic“ zum ersten Mal in Deutschland erklingt. Dabei wird Carpenter vom Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter Leitung von Giancarlo Guerrero begleitet. Aber was heißt begleitet? Riley hält für den Solisten viele verschiedene Rollen parat: „Er wird dabei, wie der Titel andeutet, von Klängen, die an die Mighty Wurlitzer Orgel der großen Kinopaläste erinnern, zu Fragmenten der Dampforgeln wechseln, zu barocken Chorälen, gelegentlich zerklüfteten Dissonanzen zusammenprallender Pfeifen und dem Boogie.“

Wenn Carpenter von der schieren Gewalt des Riley-Konzertes spricht, von einem urweltlichen Zustand des Chaos, der sich darin findet, leuchten seine Augen. Doch wahrer Luxus ist für ihn diese Kombination: einen Bach-Abend spielen zu dürfen und darauf ein maßgeschneidertes Orgelkonzert, dafür ein neugieriges und gebildetes Publikum zu finden, das wäre so in Amerika nicht denkbar. Trotz dieser Möglichkeiten räumt Carpenter ein, dass er erst jetzt in der Stadt ankommt, es ihm schwerfiel, sich wirklich unters Volk mit seinem harschen Humor zu trauen.

Beinahe sieht der muskulöse Musiker jetzt etwas verschreckt aus, und die Plüschtierschuhe wirken wie eine Bitte um Distanz. „Dies ist eine Stadt für ernsthafte Leute“, sagt er. Cameron Carpenter gehört unbedingt dazu. Im Herbst 2015 feiert dann endlich auch seine International Touring Organ ihr Philharmonie-Debüt. Und vielleicht erklingen zu diesem Anlass ja auch die ersten Weihnachtslieder-Arrangements, die der Absolvent der American Boychoir School unbedingt schreiben will. Christmas Spectacular. Das hat uns gerade noch gefehlt.

Bach-Recital, Fr 3.10., 20 Uhr, Philharmonie; Riley-Orgelkonzert: Do 9.10., 20.30 Uhr, Fr 10.10., 20 Uhr, Philharmonie

Ulrich Amling

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