Kunst von Ulrike Ottinger: Weltensammlerin an der Seine
Tradition der Flânerie: Das Haus der Kulturen der Welt zeigt mit „Paris Calligrammes“ eine Mixed Media Show von Ulrike Ottinger.
„Den Typus des Flaneurs schuf Paris“ – so heißt es bei Walter Benjamin in seinem fragmentarisch gebliebenen und posthum erschienenen „Passagen-Werk“, das er während seiner Pariser Exilzeit verfasste. „Gehen und Sehen wurde zu meiner aufregendsten Beschäftigung“ – so heißt es bei der Malerin, Fotografin und Filmemacherin Ulrike Ottinger im Katalogtext „Mémoires de Paris: eine kleine Flânerie“, in dem sie an ihre Stadterkundungen in den 1960er Jahren erinnert.
In der Tradition der Flânerie sucht die Ausstellung „Paris Calligrammes. Eine Erinnerungslandschaft von Ulrike Ottinger“ Orte auf, die für die Künstlerin persönlich bedeutsam waren. Als Protagonistin der Ausstellung ist die Stadt Paris für Ottinger zugleich materiell und märchenhaft, in ihr kreuzen sich Wirklichkeits- und Imaginationsräume: „Beim Flanieren durch die Stadt überlagern sich die reale Topografie der Straßen, Quais und Plätze mit ihren Spuren der französischen Dekolonialisierung, des Algerienkrieges und der Studentenrevolte von 1968 mit meiner imaginierten Stadt der bildenden Künste, der Musik und Literatur.“
Für die Ausstellung hat Ulrike Ottinger ein schönes Display entworfen, eine Art stilisierte Straßenlandschaft, in der sich die Wege weiten und verengen, in eine Passage und drei unterschiedliche, teilweise auch farblich voneinander abgesetzte Ausstellungsräume führen. Dieser Boulevard ist auch eine Metapher für ständig wechselnde Blickpunkte, aus denen sich sukzessiv Geschichten bilden. Ottingers Erinnerungslandschaft ist nicht linear und nicht stringent.
Interviews mit Picard und Walter Mehring
„Paris Calligrammes“ ist eine große Mixed Media Show, variiert diverse Präsentationsformen und trägt unterschiedlichste Materialien zusammen: alte Filmfragmente mit und ohne Ton, Schwarzweißfotografien, Filmplakate, Interviewaufnahmen, Zeitungen als vergrößerte Faksimiles, Drehbuchauszüge zum Film „Paris Calligrammes“, eine umfangreiche Sammlung kolonialer Bildpostkarten und viele Bücher aus Ottingers Bibliothek, wobei besonders das Gästebuch der von Fritz Picard geführten Librairie Calligrammes mit seinen Einträgen und Zeichnungen deutscher und französischer Avantgardisten aus Literatur und Kunst bezaubert.
Ein Ausstellungsraum widmet sich dieser kleinen Buchhandlung in Saint-Germain-des-Prés, die vornehmlich antiquarische und deutschsprachige Literatur führte und in der Ottinger zurückgekehrte deutsche Emigranten und französische Künstler und Intellektuelle traf. Ein der Buchhandlung nachempfundenes Schaufenster ist wie zu Zeiten von Picard mit Ottingers Büchern eingerichtet und zeigt einige Interviews mit Picard und mit dem Schriftsteller Walter Mehring, der über sein Leben im Exil und sein Buch „Die verlorene Bibliothek“ spricht.
Kritik an Gewalt und Sexismus
Beim Betreten springen die leuchtenden Farben der Wandteppiche vor ultramarinblauen Wänden sofort ins Auge. Für die Ausstellung hat Ottinger ihre frühen, in den 1960er Jahren entstandenen Siebdrucke als Wandteppiche nähen lassen: In knalligen Farben bezieht sich die Bildererzählung „Journée d’un G.I.“ auf den Vietnamkrieg. In textlosen Sprechblasen übt die episodenartige Erzählung humorvoll Kritik an Gewalt, Sexismus und kultureller Vormachtstellung.
Darüber hinaus zeigt die comicstripartige Serie Ottingers frühes Interesse am nichtlinearen Erzählen und an ausdrucksstarken Bildkompositionen. Der textile Ausgriff in die dritte Dimension mit Pailletten und Perlen, mit Filz, Fell und Flokati lässt das Verspielte und Verschmitzte noch stärker in den Vordergrund treten. In Variation und Vergrößerung bekommen nicht nur die Motive eine neue Form, auch die Erinnerung wird transformiert. In Korrespondenz mit diesen Wandteppichen präsentiert Ottinger im Rahmen des Rencontres-Festivals William Kleins filmische Politsatire „Mr. Freedom“, die mit Pop Art und Comicstrips einen schrillen Blick auf das militärische Engagement der USA wirft.
Die Schau fügt sich zu nichts Ganzem
Ein in beige gehaltener Schau- und Denkraum kreist um Ethnologisches, beschäftigt sich mit dem kolonialen Erbe und zeigt unter anderem einen Dialog zwischen Jean Rouch und Jacques Lanzmann über den Tarzan-Mythos, einen „Drehbuchauszug Calligrammes – Kolonien“ und algerische Stadt- und Landansichten, die Pierre Bourdieu als Soldat im Algerienkrieg aufnahm und denen Ottinger ein interessantes Interview über das Verhältnis von Ethnologie und Fotografie mit dem Soziologen beigesellt.
[Haus der Kulturen der Welt, bis 13. Oktober, Mi–Mo 12–19h, Do bis 22 Uhr. Jeden Donnerstag filmisches Begleitprogramm. Mehr unter hkw.de]
Noch beeindruckender sind die Tunis-Aufnahmen aus dem „Quartier réservé“ der Bauhäuslerin, Modeschöpferin und Fotografin Ré Soupault, deren Lebensgefährte Philippe Soupault 1938 vom ersten sozialistischen Premierminister Frankreichs Léon Blum beauftragt wurde, in Tunis einen antifaschistischen Radiosender gegen Mussolinis propagandistische Mittelmeerbeschallung aufzubauen. Mit Sondergenehmigung fotografierte Ré Soupault im „Verbotenen Viertel“ und hielt die Gesichter der dort lebenden verstoßenen Frauen fest. Die Schwarzweißfotografien sind nüchtern und klar und wirken dennoch nicht gestellt. Der Auszug aus Soupaults Band „Eine Frau allein gehört allen“ beschreibt die menschenunwürdige Gesellschafts- und Geschlechterordnung.
„Paris Calligrammes“ fügt sich zu nichts Ganzem. Schon der Filmtitel deutete auf Zerstreuung hin, sie spiegelt sich auch in der Ausstellung. Mit ihrer wunderbaren Materialsammlung ist sie gleichwohl etwas Eigenständiges und viel mehr als eine installative Verräumlichung der Filmrecherchen.
Friederike Horstmann
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